Nächstes Jahr in Berlin. Astrid Seeberger
Lechs Hand lag auf meinem Knie. Und ich schaute ihn an. Er hatte das schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Er sah aus wie ein Indianer.
Vielleicht werden wir alle als Indianer geboren, die zur Erde gehören und zum Himmel. Und zu Wasser und zu Wind. Und zu allem, was gelebt hat und was lebt und leben wird. Dann trennt man uns ab, jedenfalls die meisten von uns. Mutter wurde von allem getrennt. Bis sie zum einsamsten Menschen der Welt geworden war.
Ich hatte ihren Hut mit der kleinen Feder mitgenommen. Und das schreckliche Kruzifix. Und die Andachtsbildchen, jedes einzelne. Und ihren Schmuck, bei dem kein einziges Stück aus Bernstein war. Und eine kleine grüne Schnitzelmaschine für Bohnen.
Mutter zog Bohnen in unserem Garten. Sie ließ sie so wachsen, dass sie eine Art Laube bildeten. War es heiß, saß Vater dort und spielte Waldhorn. Man konnte glauben, die Bohnenlaube selbst erzeugte Töne. Und Mutter kam beim Unkrautjäten aus dem Konzept. Sie kniete mit erdigen Händen zwischen den Beeten und lauschte. In ihrem Gesicht erschien so etwas wie ein Schimmern. Vielleicht war es Vaters Spiel gelungen, ihr Meer hervorzulocken. Oder einen Fluss in Ohio – einen Fluss auf der Rückseite eines Hauses –, in dem sich alle Sterne des Himmels spiegelten und von dessen Existenz ich damals nichts wusste.
Die Lautsprecherstimme informierte uns, dass ein Flugzeug von Düsseldorf hierher unterwegs sei. Eine junge Frau mit einer Piercingperle in der Zunge und mit kurz geschnittenen blonden Haaren zerrte ein Handy aus der Tasche und sprach kichernd hinein, während sie sich hingestreckt wie eine Katze im Plastiksessel rekelte. Neben ihr saß eine ältere Frau mit breiten Hüften und fußgerechtem Schuhwerk und klammerte sich an ihrer Handtasche fest, als wäre sie ihr Rettungsring. Und ein Mann mittleren Alters in Schlips und Anzug lief weiter ruhelos hin und her wie ein Panther im Käfig.
Mir gegenüber saßen ein paar Männer und Frauen mit schmalen, leichten Körpern. Sie sahen aus, als gehörten sie einem Ballettensemble an. Mit leiser Stimme führten sie ein Gespräch in einer slawischen Sprache, als eine von ihnen aufstand, eine junge, schöne Frau mit hochgestecktem blondem Haar. Sie ging mit schwebenden Bewegungen umher, als hätte die Schwerkraft all ihre Macht verloren. Plötzlich löste sich eine Locke aus ihrer Frisur und fiel auf ihr Ohr hinunter, und mit zarter Hand strich sie dieselbe zurück. Und alle um sie herum blickten auf ihr Ohr, als wäre es der Mittelpunkt der Welt, auf ein kleines, nacktes rosafarbenes Ohr mit vollendeten Windungen. Auch ein junger, schwarz gekleideter Mann der Gruppe, der aufgestanden war und ihr folgte, starrte das Ohr wie gebannt an.
Und alles andere hörte auf: das ruhelose Hin- und Herlaufen, das Lesen und das Sprechen. Auch die Schwebende verharrte, mitten im Schritt, mitten in der großen Wartehalle. Und der Gebannte kam mit seiner Hand, langsam, als wäre das Ohr ein Magnet, der die Hand anzog. Während sie vollkommen still dastand, umgeben von einem Schimmern.
Ich fühlte mich plötzlich ruhig, obgleich Stuttgart seinen Griff nicht lockern wollte und obgleich Mutters Beerdigung noch ausstand. Ich war unterwegs nach Hause. Nach Hause zur Insel. Nach Hause zu Lech.
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