Ein Garten zweier Welten. Gerhard Deiss
die Welt endgültig ab. Ein Außenposten, der nichtsdestoweniger bedeutend sei, wurde ihm vermittelt, denn nur wenn man die Peripherie kenne, wisse man, was auf den Nabel der Welt, unsere Heimat, wohl zukommen mochte. Sein Auftrag war unklar geblieben, keine besondere Botschaft war ihm mit auf den Weg gegeben worden, sieht man vom formalisierten Empfehlungsschreiben ab, das er in einem im Allgemeinen unnahbaren und ihm nur für sehr kurze Zeit geöffneten Palast übergeben hatte. Unklar war damals auch sein Abschied geblieben, Abschied wovon – von der Welt von heute und morgen, um in eine Welt von gestern einzutauchen, ein Gestern, das nicht sein eigenes Gestern war, ja nicht einmal das Gestern der ihm vertrauten Umwelt? Abschied von einer Familie, die ihm nichts mehr bedeuten durfte, da er ihr nichts mehr bedeutete, denn zu gering ausgeprägt waren jene Eigenschaften, die seine Partnerin gerne an ihm gesehen hätte, sodass sie ihn schließlich mit einem sportlichen, aufstrebenden Jungunternehmer ausgetauscht hatte, der seine Erfolge nicht nur am Tennis- und Golfplatz, sondern auch in Bilanzzahlen unter Beweis stellen konnte. Woran hätte sie Hartmut Klemner, den sie seit geraumer Zeit nur noch Klemi oder, wenn sie schlecht gelaunt war, Klempner nannte, messen können? Zu Beginn des gemeinsamen Lebensabschnittes – aus dem davorliegenden hatte sie einen Sohn in die Partnerschaft eingebracht, quasi als persönliche Einlage, wie sie scherzhaft betont hatte – hatte sie noch auf steigende Aktienkurse des Staates und seiner Verwaltung gesetzt, doch erwies sich das bald als Fehlkalkulation, spätestens zu dem Zeitpunkt, als sich die Republik in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung verwandelte.
Die Frau hatte dem Untüchtigen klargemacht, dass wieder ein Lebensabschnitt vorbei war. Der Trennungsschmerz hätte sich für ihn in Grenzen gehalten, wäre da nicht das Kind gewesen, das zwar nicht sein eigenes war, das er aber in den letzten Jahren sehr lieb gewonnen hatte. Der Knabe, gerade sechs Jahre alt geworden und bereits in die Schule eingetreten, schenkte Hartmut zum Abschied eine Zeichnung, aus der dieser zunächst ein festgehaltenes Familienidyll aus früheren Zeiten zu erkennen vermeinte. Doch oberhalb der drei einander die Hände haltenden Personen war ein seltsam anmutendes Gebilde, wenngleich von geringer Größe, so doch bedrohlich erscheinend, zu erkennen. Dies sei nicht der Maikäfer auf seinem Flug ins Pommerland, sondern ein Bombenflugzeug, das gerade auf seinem Weg zum Zielort unser Land überquerte, damit es dort unten den Frieden herbeibomben könne, erklärte unbefangen das Kind. Hartmut empfand dieses Gebilde eher als eine unmittelbare persönliche Bedrohung, eine Fledermaus, die, zu früh unterwegs, die nahende Nacht ankündigt. Oder waren es nicht doch eher die Schwingen eines Greifvogels, der Menschen entführt und an fremde Orte bringt?
Erst vor ein paar Tagen war ihm das Bild wieder in die Hände gefallen, als er einen weiteren einsamen Abend mit viel Alkohol zu überwinden suchte. Die dabei aufkommende Leichtigkeit hatte es ihm ermöglicht, sich wieder einmal dem Schrifttum seiner Vergangenheit zu stellen und alte an ihn gerichtete Briefe durchzusehen. Neben Verheißungen aus der Vorvergangenheit lag oben im Schuhkarton die Zeichnung, die ihn nun erneut mit Unruhe erfüllte. Der bedrohliche Gegenstand darauf schien ihm noch größer geworden und ins Zentrum des Bildes gerückt zu sein, ja, fast hatte er die drei dargestellten Personen verdrängt.
Durch die zögernd einsetzende Morgendämmerung machte er den Gleitflug eines Storches aus, der aus seiner Nachtruhe aufgestört worden sein musste und ebenso wie er selbst verfrüht dem neuen Tag ausgesetzt war. Um wie viel leichter sich hier die Tage anließen. Die morgendlichen Verkehrsstaus, von denen auch diese Stadt nicht mehr verschont wurde, geduldig ertragene Unvermeidbarkeiten des Alltags, die nur vom Ritual der Hupkonzerte und südländischen Temperament begleitet waren, nicht aber die innere Unruhe erzeugen vermochte, die er von zu Hause gewöhnt war. »Wir fließen hier in der Zeit eingebettet, nicht gegen ihren Strom, und so haben wir sie in unserem Besitz«, hatte ein Angehöriger dieses Landes erst kürzlich dem Vertreter jenes Landes erklärt, das den globalen Uhrenmarkt in der Hand hält, worauf dieser resignierend zur Einsicht gelangte, die Schweiz habe wohl die Uhren, dieses Land hier aber die Zeit.
Hartmut fühlte sich verloren. Der Weg aus der Vergangenheit war unterbrochen, die Gegenwart war ihm entglitten. Er wollte nicht wieder in die Nacht und ihre Träume zurück, die Träume, die ihn aus der Vergangenheit eingeholt und ihm das Erwachen so schwer gemacht hatten, denn es war ein Erwachen aus seinen vergangenen Möglichkeitsformen. Die Leiber ferner Geliebter suchten seine Träume heim und führten ihm schmerzhaft vor Augen, was alles hätte möglich sein können, hätte er es nur gewagt, ja, nur gewollt. Zwanzig Jahre schienen stillgestanden zu sein, ein Phänomen, das ihm erst in diesem Land, dem Outpost fernab des innovativ geschäftigen Treibens seiner Heimat, begegnete. Die wispernd geflüsterten Verheißungen all jener Mädchen, die ihm einst Gleichgültigkeit gezeigt oder nur vorgespielt hatten, die in seinen Träumen nicht gealtert erschienen, begannen auch seine Tage zu umfloren. Ja, ein Flor war es, wenn die Verheißungen der Nachtträume den Selbstvorwürfen der Tagesrealität wichen – warum hatte er nicht damals so gehandelt, wie es in den Träumen der Gegenwart angebracht schien? Alles wäre so einfach gewesen, wäre da nicht sein Selbstzerstörungstrieb gewesen, der bereits greifbare Erfolge zum Scheitern gebracht hatte. Es war gewesen, als hätte er sich damals beweisen wollen, das Schicksal aus eigener Willenskraft selbst gestalten zu können, was nur möglich war, wenn alle positiven Voraussetzungen vorhanden waren, seine Wünsche zu erfüllen, und es nur noch an ihm lag, den Gewinn zu realisieren. Seine letzte Partnerin hatte ihm diese Haltung vorgeworfen. Vielleicht war es für sie auch ein Grund gewesen, mit ihm Schluss zu machen, als sie erkannte, dass in seinem Leben nur das Unverwirklichte und nicht mehr das Verwirklichbare zählten.
Das Kind kam ihm wieder in den Sinn.
Teils traurig, teils sehnsuchtsvoll blickte es ihm aus einer imaginären Welt entgegen, die aus dem Strudel der Zeit herausgeworfen worden war. Der gleiche Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen, als ihm Hartmut einmal eine Geschichte zum Einschlafen erzählt hatte, eine Gutenachtgeschichte, deren Schluss zum Guten für das Kind nur ein vermeintlich guter war. Warum könne denn das Sterntalerkind, das so reich belohnt wurde, nicht wieder zu den Menschen in die Stadt zurück? Warum müsse es in den Sternen aufgehen, die so weit entfernt blinken? Zumindest ließ der Schluss diese Vermutung zu. Verbannt in die für manche verheißungsvoll blinkende Ferne. Hartmut versuchte wohl, einen weiteren Schluss hinzuzuerfinden, der die Verbindung mit den Menschen wiederherstellt. Doch der Knabe schien entrückt, schon in die Luft anderer Planeten eingetaucht, ehe sich seine Augen schlossen und er endgültig in der Traumwelt aufgenommen wurde.
Die Traurigkeit, die uns umgibt, bevor wir wieder von unseren Träumen empfangen werden, ein zartes Gespinst einander durchdringender Stimmen, die uns verlockend zuzurufen scheinen. Doch tatsächlich bleibt alles stumm und kein Laut tönt durch den Schleier unserer Träume. So blieb Hartmut auch die Stimme des Kindes versagt, noch hörte er Stimmen anderer in sich ertönen.
Die letzten Sterne am Horizont des nördlichen Himmels erloschen endgültig, und Blau in allen Schattierungen breitete sich aus, so rasch, als würden Wellenkämme über den Himmel ziehen, die zu einer endgültigen Entladung des Lichtes führen sollten. Nur kurz war der rötliche Schimmer des Morgens am Horizont, ehe er vom Weiß des Tageslichts aufgesaugt wurde und somit keinen Anlass für Aufsehen und Schrecken mehr geben konnte. Geräusche drangen von der nahen Straße in den erwachenden Garten und vermischten sich mit den eindringlichen Vogelrufen, die kadenzierend den Tag begrüßten. Bald lag ein Geräuschteppich um das Haus und beschwichtigte auch Hartmuts spätnächtliche Unruhe. Der nächste Ruf des Muezzins würde nun gegen die Geräusche der Welt anzukämpfen haben. Erste Sonnenstrahlen fielen in den Garten, der kunstvolle Gärtnerarbeit erkennen ließ.
Hartmut entkleidete sich gänzlich, um sich den ersten Sonnenstrahlen, den noch erträglichen, auszusetzen und gleichzeitig die noch frische Luft mit allen Poren seines nicht mehr jungen Körpers einatmen zu können.
2. HAMID
NACH DEM MORGENGEBET
Es mochten wohl die ersten Vogelstimmen sein, die aus dem noch unvollkommenen Morgen drangen, nicht mehr das Zirpen der lichtscheuen Fledermäuse. Es mochten wohl auch die realen Erinnerungen der letzten Tage sein und nicht die Nachwehen irgendwelcher Traumeswirren, die in ihm jetzt aufstiegen. Doch den Morgentau auf seinen Händen zu spüren war er noch nicht bereit. Vor Kälte zitternd band sich Hamid seine Arbeitsschürze um. Noch nie