Ein Garten zweier Welten. Gerhard Deiss
seinem Schlaf weckte. Doch diesmal war es tatsächlich der Ruf des Muezzins gewesen, so wie es auch sonst hätte sein sollen.
Der Auftrag des Propheten – oder war es ein göttlicher Auftrag, der ihn aufzustehen geheißen hatte, verkündet aus dem Mund des Ibn Bakr, jenes jungen Geistlichen, der die Gläubigen seit geraumer Zeit in seinen Bann zog, auch jene, die vom rechten Weg des Glaubens abgekommen waren. Glänzende Augen, die Blitze aussandten, zur Gänze in sich gekehrt, und den Außenstehenden nur ein leuchtendes, doch auch todverkündendes Weiß zeigend, wenn sie nach innen sahen und in die Trance des Glaubenseifers verfielen, beredte Gehilfen einer zunächst wohltönend und vertrauenserweckend erklingenden Stimme des großen Bruders, der all sein Wohlwollen und seine Sympathie mit den am Rande dieser großen Stadt in den Hütten des Elends Leidenden anbot. Mit den Verheißungen des künftigen Paradieses kamen auch die Forderungen der Religion einher, modulierend dann die Stimme, die sie verkündete. Die Tonlage änderte sich mit fortschreitender Predigt, bis sie einem Stakkato von Maschinengewehrgarben glich, die vielstimmig in hoher Tonlage seinen Mund verließen und den Kampf um die Reinheit des Glaubens verkündeten, Stärkung bis zum nächsten Freitag, denn die Reinheit ist nur durch Waschungen im Blut zu erlangen.
Wie im Traum verließ Hamid diese Predigten, die sich jedes Mal zu überbieten schienen und die Gläubigen zusehends in innere Ekstase versetzten, denn sie harrten noch lange nach dem Gebet reglos aus. Die Unrathaufen auf den Pfaden zwischen den Wellblechhütten, die den bereits Glücklicheren dieses Slums Haus und Hof waren, die streunenden Hunde und zerlumpten Kinder, sie waren Hamid vertrauter als das Treiben auf den Prachtstraßen des Zentrums der Stadt, wohin er nur selten fuhr, denn ihm wurde dort jedes Mal im Angesicht der Weite und der wie Schnee und Eis in der Sonne glitzernden Fassaden der Glaspaläste kalt. Auch die mit Brettern und Kartons geflickten Unterkünfte der noch Ärmeren, ja selbst die Schlafstätten der Allerärmsten, die ihre Nächte im Freien zubrachten, wenn in den großen Betonröhren der nahen Baustelle kein Platz mehr war, wurden ihm zur paradiesischen Medina. Trüb dahinfließende Kloaken mit stechendem Gestank zogen durch die organisierte Ansammlung des menschlichen Unvermögens, mit den Erfordernissen der Zeit Schritt zu halten. Doch wenn Hamid vom Prediger der Weg ins Paradies gezeigt worden war, konnten ihm selbst diese Rinnsale wie Bäche voll Milch und Honig erscheinen.
Er selbst wohnte nicht in diesem Viertel, doch die Predigten, die allwöchentlich aus der kleinen behelfsmäßigen Moschee klangen, zogen ihn dorthin, und in der Gemeinde der Gläubigen wurde er wie einer der Ihren aufgenommen. Hamids eigene Familie betrachtete sein Tun mit Argwohn. Hatte nicht sein Bruder ihm die Stelle als Gärtner bei dem reichen Ausländer verschafft, ihm, der begnadete Hände für alles besaß, was lebte und wuchs? Was sollten die Pilgerwanderungen in den Slum, der Abstieg hinab ins Fegefeuer der Unglücklichen?
Seinem älteren Bruder, der als Koch bei einem Regierungsangestellten arbeitete, war Hamids Verfangensein mit dem Slumprediger ein Dorn im Auge. Sollten diese Gepflogenheiten bekannt werden, so sagte er, dann müsste er selbst um seine Stellung bangen, denn die Sicherheit der Reichen und Regierenden wurde streng überwacht, und von den Slums, die sich der Überwachung entzogen, drohte Gefahr.
Hamid fiel die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vorabend wieder ein, als er sich seinen Tee aus einer mitgebrachten Thermoskanne eingoss. Aus den aufsteigenden Dämpfen blickte ihn im zornigen Gesicht des Älteren der Vorwurf an, sie alle um ihre Stellungen bringen zu wollen.
»Aber ich verlasse diese Predigten stets gereinigt und gestärkt, nichts kann mir etwas anhaben, und bestimmt auch nicht meinen Verwandten«, hatte Hamid entgegnet, doch es hatte nichts genutzt.
Als die Sonnenstrahlen das Geflecht der Äste durchbrachen und sich Hamids in der Kälte zitternder Körper beruhigte, hob er den Blick und musterte den Garten, den er als seinen eigenen betrachtete, denn mit den eigenen Händen hatte er ihn gestaltet und ihm eine Seele verliehen. Die Herren des Gartens wechselten einander in gleichmäßigen Abständen ab und blieben ihm unbekannte Gestalten, die ihm Anweisungen gaben, manche ausführlicher, andere jedoch gar nicht, was auch gut war, denn sie hätten mit ihren eitlen Wünschen nach besonderer Prachtentfaltung nur das Gleichgewicht des Gartens gestört.
Dieser Garten war in kleinen Vierecken angelegt, die durch schmale Wege voneinander getrennt waren. Über niedrigen Sträuchern, Malven, Jasminen und Oleandern, erhoben sich kleine Orangenbäume und Stechpalmen, darüber wiederum mächtige Dattelpalmen und Jakarandas, die bereits vor Generationen gepflanzt worden waren, offenbar noch vor Anlage des Gartens. Ein kleines Wasserbecken bildete den Mittelpunkt des von einer hohen Mauer umfassten Gartens. Gegenüber dem Haus war ein Brunnen in der Mauer eingebaut. Der Brunnen war längst versiegt, dennoch vermittelte er das Gefühl von Frische, vor allem zur heißesten Zeit. Jetzt schimmerte noch Tau auf den kleinen Rasenstücken um ihn herum.
In den Gevierten des Gartens selbst lag die Erde zwischen den einzelnen Sträuchern und Bäumen blank und gab Hamid stets zu erkennen, woher er kam und wohin sein Weg führen würde.
Er hatte im schattigen Becken des Wandbrunnens seinen kleinen Vorrat an mitgebrachten Speisen untergebracht und holte sich von dort die erste Mahlzeit des Tages. In der Erde vor dem Brunnen lag etwas eingegraben, dessen er sich nur undeutlich erinnern wollte. Das morgendliche Gebet war ihm diesmal schwerer von den fast stummen Lippen gekommen als sonst, zu sehr schwang noch die Auseinandersetzung mit seinem Bruder am Vortag nach. Keinen Denar werde er hergeben, um Hamid bei der Werbung um die schwarzäugige Aischa zu unterstützen, deren Vater es zur Bedingung gemacht hatte, dass jeder, der seine Tochter heiraten wollte, ein eigenes Haus oder aber wenigstens einen beträchtlichen Geldbetrag vorweisen müsse. Die Liste der Bewerber war lang, und Hamid konnte sich kaum Hoffnung machen, auch wenn er meinte, dass Aischa seine Zuneigung erwiderte. Sie war ihm nur einige Male auf dem Markt begegnet, hatte damals seine Blicke erwidert. Ihre Augen hatten ihm mehr ausgesagt, als es Worte vermocht hätten, selbst jene des Ibn Bakr, ja sogar seine Predigten hätten gegen ihre Blicke nur schal gewirkt.
Aus den noch immer aufsteigenden Dämpfen des Tees war auch ihr Gesicht zu erkennen, das jenes seines Bruders zusehends verdrängte. Nicht verdrängen konnte er jedoch die Worte des Ibn Bakr, die dieser vor noch nicht allzu langer Zeit heimlich und in fast verschwörerisch anmutender Weise im persönlichen Gespräch ihm gegenüber fallen gelassen hatte: Prophezeiungen des Paradieses, wo ihm die anmutigsten Wesen zu Diensten und zur Liebe sein würden. Auf die weltliche Liebe brauche er gar nicht zu verzichten, denn man könne nicht auf etwas verzichten, das ohnedies nicht zu erlangen sei, womit er auf die aussichtslose, da nicht bezahlbare Verwirklichung seiner Verbindung mit Aischa anspielte. Doch die Verheißungen des Korans könne er bald selbst erleben, quasi leibhaftig, wenngleich der Leib von anderer Gestalt sein werde, als man es sich vorstellen könne. Das Wort »Martyrium« war ebenfalls gefallen. Der Geistliche räusperte sich dabei und senkte seine sonst laute Stimme. Ob er bereit wäre, sich als Kämpfer des Glaubens auszuzeichnen und der Reinheit der Lehre zu dienen? Hamid war wie immer von seinen Worten entzündet, sodass ihm die Stimme versagte und er nur begeistert nicken konnte. Was er dafür zu tun hätte, darauf wollte Ibn Bakr aber noch nicht eingehen. Er machte lediglich einige Andeutungen über die Feinde des Glaubens, die wie ein großer Polyp ihre Fangarme überallhin ausbreiteten, unter den Decknamen »Modernität« und »westliche Werte«. Mit ihrem sündhaften Satellitenfernsehen, wo sich die nackten Frauenkörper in eindeutigen Posen den Blicken von Millionen – auch gläubiger Muslime – darböten, mit ihren Restaurants und Hotels, wo der Alkohol fließe, und mit der von ihnen verfochtenen Trennung des Glaubens vom Alltag. Sie seien ärgere Feinde als es vor Jahrhunderten die christlichen Kreuzfahrer waren, denen man auf dem Schlachtfeld offen gegenübertreten konnte und wo die Fronten klar verliefen. Insofern habe er mit einer gewissen Wehmut und Anteilnahme die großen Kundgebungen und von Millionen besuchten Trauerfeierlichkeiten des letzten Papstbegräbnisses verfolgt. Heute hingegen zögen sich die Ideen des Feindes bereits durch die Köpfe so mancher Muslime, wodurch der Gottlosigkeit bei der Obrigkeit kaum noch Einhalt zu bieten sei. Doch die wahren Gotteskämpfer hätten sich nun erhoben – und auch für ihn, Hamid, schlage bald die Stunde. Mit tapferen Gleichgesinnten, bereit, ihr Leben gegen ein besseres zu tauschen, würde er ihn demnächst bekannt machen.
Ein leichter Zweifel durchfuhr Hamid. Ob denn nun die Aufopferung für den Glauben und dessen höhere Vollendung das Ziel sei oder die persönliche