Miau. Skye MacKinnon
wie paranoid. Die meisten Leute in dieser Stadt leiden unter irgendeiner Form von Paranoia, aber manche mehr als andere. Die Hexenjagd, die sie vergangene Woche zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren wieder veranstaltet haben, war ein eindeutiger Beweis. Armes Opfer.
Aus dem Haus unter mir kommt kein Geräusch, also schleiche ich weiter in Richtung Dachfenster. Es hat einen alten Holzrahmen, also sind Splitter vorprogrammiert. Da lasse ich ohne Handschuhe die Pfoten von.
Vorsichtig spähe ich über die Dachkante. Kein Licht, schon mal gut. Ich teste, wie tragfähig die Kante ist, drücke ein paar Mal drauf. Scheint stabil genug zu sein. Hoffen wir mal, dass sie mein Gewicht aushält.
Ich halte mich nur mit den Fingern fest und lasse mich hinab, bis ich genau vor dem Fenster hänge. Nach dem, was man mir gesagt hat, wird der Dachboden nur für Lagerzwecke verwendet. Er sollte leer sein. Ich schwinge zurück und strecke meine Beine vor mir aus und trete das Fenster beim Vorwärtsschwingen ein. Es ist alt und leistet kaum Widerstand. Wahrscheinlich hätte ich es auch mit den Händen eindrücken können.
Ich lasse mich auf den Boden gleiten, bleibe bewegungslos kauern und lausche nach allem, was im Haus so vor sich gehen könnte. Da ist nur Stille. Entweder er schläft oder er ist nicht da. Hoffentlich schläft er, ich würde ungern den ganzen Weg nochmal machen. Von mir aus gesehen ist das Haus schließlich am anderen Ende der Stadt, und ich bin nicht gerne zu lange draußen. Weiß gar nicht mehr, wie viele Kopfgelder inzwischen auf mich ausgesetzt sind, beim letzten Zählen waren es ein gutes Dutzend. Auf irgendeine kranke Art und Weise macht mich das sogar stolz. Die Leute da draußen haben Angst vor mir. Sollten sie auch. Ihre Furcht ist meine Versicherung. Wenn die Leute dich fürchten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht so hoch, dass sie dich angreifen.
Ich bleibe noch ein paar Minuten in dieser kauernden Position, als ich aber nichts höre, stehe ich auf und hole die Taschenlampe aus meinem Rucksack. Ich schaue mich in dem Raum schnell um. Abgesehen von ein paar staubigen Pappkartons ist er leer, genau, wie man mir gesagt hatte. Nach der dicken Staubschicht auf dem Boden zu urteilen, war seit Wochen keiner mehr auf diesem Dachboden.
Eigentlich ist es ganz hübsch hier oben. Nach einer Putzaktion könnte das eine nette Dachkammer sein. Die durch den Boden ganz nach oben reichenden Dachbalken wären optimal, um eine Hängematte dazwischen aufzuspannen. Viel schöner als das Loch, in dem ich gegenwärtig hause.
Ein Geräusch unter mir erschreckt mich, aber mein gutes Training lässt mich ruhig verharren. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, gebe keinen Ton von mir. Ich höre Schritte, langsam und schwer. Eigentlich mehr ein Schlurfen als ein Gehen. Man hat mir nichts über das Alter meiner Zielperson gesagt, aber diesem Geräusch nach zu urteilen muss sie älter sein. Das sind die leichtesten Ziele. Nicht nur wegen der eigentlichen Arbeit, sondern auch, weil mir das am wenigsten ans Gewissen geht. Alte Leute sterben sowieso bald. Ich kann ihnen nicht mehr so viel Lebenszeit wegnehmen. Weniger Schuld, mit der ich leben muss.
Ich verharre weiter bewegungslos, bis ich unter mir die Toilettenspülung höre und wieder das schlurfende Geräusch, diesmal zurück zum Schlafzimmer. Zeit für Action, bevor sich der Staubfilm auch noch über mich legt.
Vorsichtig schleiche ich zur Bodenluke. Im Vergleich zum Rest des Hauses ist sie eher modern, mit leuchtenden Metallscharnieren, die so aussehen, als würden sie nicht allzu sehr quietschen. Ich arbeite wie in Zeitlupe, öffne vorsichtig die Klappe und lasse langsam die Leiter hinab. Je langsamer, desto weniger Geräusch.
Als ich endlich die unterste Sprosse der Leiter erreiche, geht mir das ganze schon wieder so was von auf die Nerven. Ich bin eher der Typ für eine schnelle Attacke in einer dunklen Seitengasse als hier durch anderer Leute Häuser zu schleichen. Das dauert nicht nur endlos, das zeigt mir auch die Art von Leben, die ich nie hatte und auch nie zu führen gedenke. Bilder an den Wänden, Fotos in staubigen Rahmen. Ein ausgefranster Teppich, verblichen und abgetreten durch all die Schritte, die er aushalten musste. Am Ende des Flurs steht eine verkümmerte Pflanze in einem viel zu großen Topf. Wahrscheinlich wochenlang nicht gegossen. Wenn ich den Besitzer umgebracht habe, gebe ich ihr vielleicht ein bisschen Wasser – im Service inbegriffen.
Auf Zehenspitzen bewege ich mich den Flur entlang, dem sanften Schnarchen entgegen. Die Richtung stimmt mit der Vorstellung von dem Haus überein, die ich mir durch seinen Klogang gemacht habe. Die Tür auf meiner rechten Seite führt in sein Schlafzimmer. Ich ziehe die Messer aus den Scheiden an meinem Gürtel. Die habe ich gestern noch geölt, damit sie ja keinen Laut machen, wenn ich meine bevorzugten Waffen heraushole. Beide Messerspitzen habe ich in Gift getaucht, was dieser Tötungsmethode eine gewisse Eleganz verleiht. Besser, als die Leute nur abzustechen. Ein kleiner Ritz mit dem Messer, und eine halbe Stunde später kommt der Tod auf leisen Pfoten. Es ist auch persönlicher als die Pfeile, die einige meiner Kollegen verwenden. Nein, Kollegen, das sind sie eigentlich nicht. Kumpanen. Elende Kreaturen, die im selben Leben gefangen sind wie ich.
Ich atme tief, aber geräuschlos ein und schiebe die Tür auf. Es ist fast vollständig dunkel in dem Raum, aber meine Augen gewöhnen sich schnell daran, der Flur war auch nur wenig beleuchtet. Im Bett liegt eine Gestalt, unter zahlreichen Decken verborgen. Dem Mann muss ganz schön kalt sein. Wir sind jetzt immerhin am Ende des Frühlings, da müsste eigentlich eine einzige Decke genügen.
Ich nähere mich vorsichtig von der linken Seite, die Messer gezückt. Vielleicht sollte ich heute nur das Gift einsetzen. Dann würde er aus dem Schlaf einfach in den Tod hinübergleiten. Viel schöner und nicht so blutig, als ihm die Kehle durchzuschneiden. Außerdem sehen die Bettlaken gut und teuer aus, die möchte ich doch nicht ruinieren. Vielleicht hat er ja Erben, die damit dann noch etwas anfangen können, aber nur ohne große Blutflecken.
Also stecke ich eines der Messer wieder zurück in die Scheide und ziehe eine feine Nadel aus einer geheimen, in meinen Hemdkragen eingenähten Tasche. Die ist nicht so eindrucksvoll wie meine Messer, aber heute will ich mal nicht so gewalttätig sein. Das Blutbad, das ich bei meinem Opfer gestern angerichtet habe, gleicht das mehr als aus.
Ich beuge mich vor, um den Mann zu stechen – und bemerke meinen Fehler. Das Schnarchen hat aufgehört, es war wohl schon nicht mehr zu hören, seit ich den Raum betreten habe. Der Mann vor mir atmet nicht.
„Du bist nicht gerade schlau!“
Ich drehe mich blitzschnell um, bereit, mein Messer auf den Mann zu werfen, dessen Stimme aus einer dunklen Ecke des Zimmers kommt. Ein Zimmer, das ich nicht auf mögliche Fallen untersucht hatte. Schwerer Fehler. Ohne die Schatten, in denen er sich versteckt, aus den Augen zu lassen, schüttle ich den „Mann“ vor mir. Er wiegt zu wenig. Das ist auch nicht wirklich ein Körper. Bitte sag mir, dass ich nicht auf den „Kissen-unter-Decken“-Trick hereingefallen bin! Mir gehört’s nicht anders. Zu sehr abgelenkt durch Topfpflanzen und abgelaufene Teppiche.
„Wer bist du?“ frage ich ihn mit Stahl in der Stimme. Bloß keine Unsicherheit oder Angst zeigen.
„Die haben mir gesagt, sie würden eine ihrer Besten schicken“, murmelt er vor sich hin. „Bin mir nicht so sicher, dass sie dich damit meinten.“
„Du bist meine Zielperson?“
Er macht einen Schritt aus der Dunkelheit heraus, und ich lasse meine Nadel fallen und ziehe stattdessen das zweite Messer. Selbst in dem düsteren Licht ist klar, dass der Mann tatsächlich alt ist, was ihn aber nicht daran hindert, sich merkwürdig fließend fortzubewegen, wie das Raubtiere tun, die auf Beute lauern. Der schlurfende Schritt zum Badezimmer war wohl nur gespielt.
„Du hast dir ganz schön Zeit gelassen“ erwidert er statt einer Antwort auf meine Frage. „Obwohl – das ist wohl ein gutes Zeichen. Manchmal ist Geduld wichtiger als Intelligenz.“
Er legt’s offenbar darauf an, mich zu beleidigen, aber ich lasse mich nicht provozieren. Habe Übung darin, nicht auf das zu achten, was andere Leute zu mir sagen.
„Was willst du?“ frage ich ihn. Irgendwie ist mir schon klar, dass er nicht seinen eigenen Mörder umbringen will. Das hätte er schon tun können, als ich durch die Tür kam. Hätte mich von hinten anspringen können, mir die Kehle durchschneiden oder mir den Kopf einschlagen. Was auch immer.
„Ich