Getriebene. Armin Wühle
ARMIN WÜHLE
GETRIEBENE
ROMAN
Inhalt
Vierter Teil: Die andere Seite
Mit festem Schritt näherte sich Cora dem Flughafengebäude. Es war früher Nachmittag und ein milchiger Dunst verdeckte die Sonne. Sie überquerte die stark befahrene Straße, schob sich an einem rauchenden Taxi-Fahrer vorbei und betrat das Terminal. Im Gehen blickte Cora auf ihre Armbanduhr. Sie lag gut in der Zeit.
Es herrschte reger Betrieb in der Halle, und vor den Schaltern der Fluggesellschaften bildeten sich lange Schlangen. Auf einer Anzeigetafel suchte Cora nach ihrem Flug. Als sie ihn gefunden hatte, presste sie die Daumenbeugen gegen die Riemen ihres Rucksacks und ging weiter. Den Rucksack trug sie nur zum Schein. Er war leer, abgesehen von ihrem Reisepass und einer Jacke, die den Hohlraum ausbeulen sollte. Cora schloss zu einer losen Traube Reisender auf und verlor sich in der Menge.
Sie hatte auf unauffällige Kleidung geachtet: flache Schuhe, dunkle Stoffhose, eine Bluse, darüber einen schiefergrauen Blazer. Sie trug dezentes Make-up und Ohrstecker, das lange Haar hatte sie zu einem Dutt gebunden. Sie unterschied sich nicht von den Geschäftsfrauen, die ihr im Terminal immer wieder begegneten. Am Morgen hatten sie zu dritt vor ihrem Kleiderschrank gestanden und über die passende Garderobe diskutiert. Eine Dreiviertelstunde hatte es gedauert, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden waren. Allein die neuen Schuhe drückten unangenehm. Cora blieb stehen, schob einen Finger hinter die Ferse und versuchte, das Kunstleder zu weiten. Als sie aufsah, kam ihr eine Polizeistreife entgegen. Die Männer trugen olivfarbene Schutzwesten und langläufige Schusswaffen. Wie an einer Felsformation teilte sich der Menschenstrom an ihnen. Die Blicke der Streife trafen Cora und glitten über sie hinweg. Sie strich sich über die Augenbrauen und senkte den Blick. Sie verbarg ein Lächeln.
Die Sicherheitskontrolle verlief reibungslos. Es war ohnehin ausgeschlossen, dass sie etwas an ihr entdeckten. Cora schob ihren leeren Rucksack auf das Fließband. Mit verschränkten Armen wartete sie, bis sie durch den Metalldetektor gerufen wurde. Sie betastete den Dutt, der sich wie ein Geschwür an ihrem Kopf anfühlte. Nahid hatte ihn am Morgen gebunden, mit konzentriertem Blick und den Haarnadeln zwischen den Lippen. Gesprochen hatten sie wenig. Der Kaffee, den Nahid für alle gemacht hatte, stand unberührt in den Tassen. Faiz telefonierte im Nebenraum. Seine Stimme drang dumpf durch die geschlossene Tür. Cora nippte an dem inzwischen kalten Kaffee und blickte zum Hinterhof hinaus, der im Licht der aufgehenden Sonne lag. Sie ignorierte ihre schmerzende Kopfhaut. »Entschuldige«, murmelte Nahid und schob ihr die letzte Nadel ins Haar.
Eine Sicherheitsbeamtin winkte Cora mit ihrer behandschuhten Rechten durch den Metalldetektor. Sie schritt hindurch, nahm auf der anderen Seite ihren Rucksack entgegen und reihte sich in die nächste Schlange vor der Passkontrolle. Cora hatte keine Angst. Selbst das bittere Gefühl, einem ungewissen persönlichen Schicksal entgegenzugehen, schreckte sie nicht. Sie schob ihren Pass durch den Schlitz und der Grenzbeamte nahm ihn wortlos entgegen. Er blätterte ihn mit blinden Augen durch, legte die laminierte Seite auf einen Scanner. Der Beamte schob den Pass zurück und die letzte Schranke öffnete sich.
Im Wartebereich saß Cora einer jungen Mutter gegenüber. Sie trug ein buntgemustertes Kleid, wie es in den Afro-Shops am Stadtrand verkauft wurde. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn aufgestützt, den Blick gedankenverloren auf das Rollfeld gerichtet. In der Hand hielt sie einen leeren Pappbecher. Neben ihr saß ein Mädchen mit abstehenden Zöpfen, dessen Füße nicht auf den Boden reichten. Mit großen Augen sah sich das Mädchen in der Abflughalle um. Cora hoffte, dass es niemanden gab, der die beiden in Khartum erwartete. In dem nachdenklichen Blick der Frau suchte Cora den Beweis zu sehen, dass sie den Flug ohnehin nicht antreten wollte. Cora nahm ihre Tasche und spazierte durch die Duty-Free-Läden, bis ihr Flug aufgerufen wurde.
Eine Stewardess in blauem Kostüm und mit geknotetem Halsband bot den Passagieren eine Schale Lutschpastillen. Cora nahm dankend an und bog in den Rumpf der Kabine. Sie ließ ihren Blick wie beiläufig über die Sitzreihen streifen und entdeckte die Gruppe am anderen Ende des Flugzeugs. Man hatte die beiden Männer getrennt von den anderen Passagieren einsteigen lassen. Die beiden Zivilpolizisten, die sie begleiteten, saßen auf den Gangplätzen und versperrten ihnen den Weg. Cora versuchte, ihre Blicke einzufangen, doch die Rücken der einsteigenden Gäste schoben sich immer wieder dazwischen. Es war ohnehin klüger, nicht erkannt zu werden. Vor der ihr zugewiesenen Sitzreihe blieb sie stehen und rutschte zum Fensterplatz durch. Sie zog das Bordmagazin aus dem Gitternetz und las einen Beitrag über andalusischen Wein.
Die Kabinentüren schlossen sich mit einer Verspätung von zehn Minuten. Das Flugzeug wurde rückwärts aus der Parkposition gezogen, und die Stewardessen gingen durch die Reihen und schlossen die Ablagefächer. Cora dachte daran, wie sie das Ticket vor zwei Tagen an einem Schalter der Fluggesellschaft gekauft hatte. »Ich brauche nur einen Hinflug«, hatte Cora gesagt und sich gefühlt, als habe sie sich dadurch bereits verraten. Doch der Angestellte registrierte ihre Antwort mit einem kaum merklichen Nicken. Schweigend starrte er auf den Bildschirm, bis ein Drucker die Buchungsbestätigung ausgab. Cora bezahlte in bar. Von der Leichtigkeit des Vorgangs etwas betäubt, aber nicht minder entschlossen, radelte sie nach Hause. Jetzt saß sie hier und wartete auf den richtigen Moment. Sie betrachtete das Terminal, das an ihrem Fenster vorbeizog, die Wartungshallen, die Futtermaisfelder. Sie zählte von Zehn rückwärts und öffnete bei Eins den Gurt.
Sie bat ihre Sitznachbarinnen, ihr Platz zu machen und schob sich an den beiden älteren Damen vorbei. Sie musste sich an den Rückenlehnen der vorderen Sitze festhalten, um nicht umzufallen – die Geschwindigkeit, mit der das Flugzeug zur Landebahn rollte, war höher als gedacht. Cora trat auf den Gang und setzte sich auf den Boden. Einige Köpfe drehten sich zu ihr um. Cora umschloss zu beiden Seiten die Metallstreben, an denen die Sitzreihen verankert waren. Sie saß entgegen der Fahrtrichtung, blickte den Gang hinunter wie eine Rodelbahn. Mittlerweile hatte sie die Aufmerksamkeit eines guten Dutzends Passagiere erregt. Eine Stewardess, halb versteckt hinter dem Vorhang zur Bordküche, bemerkte das Geschehen. Sie schnallte sich ab und eilte den Gang hinauf. Vor Cora ging sie in die Hocke.
»Madame, haben Sie ein gesundheitliches Problem?«
»In diesem Flugzeug befinden sich Personen, die nicht transportiert werden möchten, und ich werde mich nicht bewegen, bis diese Personen das Flugzeug verlassen dürfen.«
Die Stewardess wich zurück. Sie kräuselte die Stirn und blickte um sich, als suche sie Zeugen, die ihr bestätigten, was sie soeben gehört hatte.
»Madame, Sie müssen auf Ihren Platz zurück, sonst können wir den Flug nicht fortsetzen.«
Cora wusste nicht, was sie dem Offensichtlichen entgegnen sollte, und schwieg.
»Madame!«, insistierte die Stewardess und zog schwach und ohne Überzeugungskraft an ihren Handgelenken. Einer der Passagiere fragte laut vernehmbar, was los sei, und lenkte damit weiteres Interesse auf die Situation. Die Stewardess stand sichtlich ratlos vor ihr und entschied sich für einen vorläufigen Rückzug. Die ältere Dame, die neben Cora gesessen hatte, berührte sie an der Schulter und fragte, was los sei. Cora begegnete der freundlich gestellten Frage mit derselben Freundlichkeit und erklärte erneut, dass sich in diesem Flugzeug Personen befänden, die nicht transportiert