Getriebene. Armin Wühle
Es dauerte nicht lange, bis die Stewardess in Begleitung eines männlichen Flugbegleiters zurückkam. Sie waren mittlerweile auf dem Rollfeld zum Stehen gekommen. Auch die beiden Männer in der hintersten Reihe hatten von der Aktion erfahren. Sie reckten ihre Hälse und verfolgten das Geschehen, blieben aber ruhig. Es war sicherlich das vernünftigste Verhalten in ihrer Situation. Der junge Flugbegleiter ging vor Cora in die Hocke. Er war offensichtlich gerufen worden, um mehr Eindruck zu schinden als seine weiblichen Kolleginnen. Sein zierlicher Körper strahlte keine Dominanz aus, doch eine gewisse rhetorische Fähigkeit konnte ihm Cora nicht absprechen. Er sprach von den rechtlichen Konsequenzen ihrer Aktion, von Strafverfahren mit hohen Geldbußen, von lebenslangen Flugverboten und Schadensersatzforderungen. Er bekräftigte gleichzeitig die Rechtmäßigkeit ihres politischen Anliegens, doch ihr Aktionismus sei in diesem Fall aussichtslos. »Sie können diesen Menschen nicht helfen. Wenn sie heute nicht fliegen, werden sie in die nächste Maschine gesetzt. Ersparen Sie sich und uns allen den Ärger. Eine junge Frau wie Sie sollte sich nicht die Zukunft verbauen.«
Cora starrte an ihm vorbei. Keine Diskussionen, darüber hatten sie immer wieder gesprochen. Sie schwieg, bis der Flugbegleiter von ihr abließ und sich flüsternd mit seiner Kollegin beratschlagte. Unter den übrigen Passagieren wurden Stimmen laut, die das Geschehen kommentierten. Ein Mann in der Reihe vor ihr beugte sich vor und suchte ihren Augenkontakt. »Ich weiß nicht, was sie dir über unser Land erzählt haben, Mädchen. In den Tod fliegen diese Leute aber nicht. Der Rest von uns sitzt doch freiwillig in diesem Flugzeug. Meinst du, wir würden hier sitzen, wenn es so gefährlich wäre?«
Cora dachte an Faiz, um sich abzulenken. Sie dachte an Faiz und an Nahid, und sie dachte an ihren Bruder, der heute seine Stelle als Assistenzarzt antrat – ein Gedanke an eine gänzlich andere Welt. Die beiden Flugbegleiter verschwanden in Richtung des Cockpits. Ihr Gegenüber setzte gerade zu einer neuen Argumentation an, als sich ein fülliger Geschäftsmann von seinem Platz erhob. Sein grauer Anzug spannte über dem Bauch. Er blickte herausfordernd um sich, als spräche er zu der versammelten Menschenmenge.
»Bringt jetzt endlich jemand die Fotze zur Vernunft?«
Die Luft schien wie eingesogen. Gespräche verstummten und wichen einer abwartenden Stille. Der Zorn saß Cora glühend heiß in der Brust. Sie schnellte hoch, ohne ihren Griff von der Strebe zu lösen.
»Halt’s Maul, Arschloch!«
Der Mann drängte sich an seinem Nachbarn vorbei. Seine schwerfälligen, gleichzeitig energischen Bewegungen versprachen eine Hitzköpfigkeit, die ihr nur entgegenkommen konnte. Er ging auf sie zu, drohend den Finger ausgestreckt. Besser konnte es für Cora nicht laufen. Die Situation eskalierte.
»Du kleine Fotze gehst jetzt auf deinen Platz«, sagte er und packte sie an den Beinen. Cora schrie aus vollen Kräften und versuchte, seine Hände abzustrampeln. Ein Raunen schwoll in der Kabine an. Mehrere Passagiere erhoben sich von ihren Plätzen, unschlüssig, ob sie eingreifen sollten oder nicht. Der Hitzkopf versuchte, sie über den Gang zu schleifen, und Cora musste alle Kraft aufwenden, um sich an den Metallstreben zu halten. Von der Hüfte abwärts hing sie in der Luft. Die Männer in der letzten Reihe protestierten lautstark und konnten von ihren Betreuern nur mühsam in Zaum gehalten werden. Stimmen überlagerten sich, immer mehr Menschen drängten sich auf den Gang. Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf kämpfte sich zu ihnen vor. Er packte den Angreifer an den Schultern und redete in dessen Landessprache auf ihn ein. Die beiden führten ein heftiges Streitgespräch, das den Hitzkopf nicht davon abhielt, weiter an Coras Beinen zu zerren. Ihre Muskeln brannten und begannen schwach zu werden. Sie hörte weitere Schritte auf sich zukommen und hoffte auf Unterstützung, doch die Person, die nun hinter ihr kniete, versuchte ihr die Finger von den Metallstreben zu lösen. Cora beschimpfte die Person lautstark, doch es half nichts. Ein Finger nach dem anderen wurde ihr umgebogen, bis sie den Halt ihrer linken Hand verlor und seitlich einknickte. Der Hitzkopf schleifte sie einige Meter über den Gang, bis ihre Hände erneut eine Metallstrebe fanden. Eine herbeigeeilte Stewardess stand hilflos vor der Szene und presste sich die Hand vor den Mund. Cora strampelte mit einem letzten hysterischen Aufbäumen ihrer Kräfte, bis die Hände ihres Kontrahenten von ihr ließen. Ihr kahlgeschorener Helfer und die Stewardess nutzten den Moment und stellten sich schützend vor sie. Der Hitzkopf schnaufte wie ein Stier, seine Brust hob und senkte sich. Er spuckte vor Cora auf den Boden und murmelte einen Fluch. Die Stewardess forderte mit zitternder Stimme alle Beteiligten auf, zu ihren Plätzen zurückzukehren, als sich das Flugzeug mit einem Ruck in Bewegung setzte. Die Stewardess musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht zu stürzen, und alle, die sich erhoben hatten, kehrten schwankend auf ihre Plätze zurück. Cora starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke und ignorierte die schrillen Beschimpfungen, die ihr entgegengeschleudert wurden. Ihre um die Metallstreben verkrampften Finger lockerten sich. Sie nahm ihr klopfendes Herz wahr, das sie bis in die Schläfen hinein spürte. Sie überhörte darüber fast die Durchsage des Kapitäns, der den Passagieren mitteilte, dass der Flug aus Sicherheitsgründen abgebrochen werde und sie nun zum Flugsteig zurückkehrten. Aus der Ferne hörte sie Flüche und leisen Jubel aufbranden. Cora leerte ihre Gedanken, bis sie der grauen Decke über ihr gehörten und der sanften Vibration unter ihrem Rücken.
Cora leistete keinen Widerstand. Nachdem die beiden Männer das Flugzeug verlassen hatten, nahm sie ihren Rucksack und folgte den Polizisten zum Ausgang. Sie passierte dabei den Piloten, der vor seine Kabine getreten war. Er hielt die Arme verschränkt, musterte Cora von oben bis unten und verabschiedete sie mit einem verächtlichen Schnalzen der Zunge. In der Fluggastbrücke wurden ihr Handschellen umgelegt. Cora blickte durch einen schmalen Spalt zwischen Brücke und Maschinenrumpf nach draußen. Einsatzwagen hatten das Flugzeug umstellt, Blaulicht flackerte über das Rollfeld. Die Polizisten nahmen Cora in einen schmerzenden Griff und brachten sie ins Terminal. Sie wurde einen Flur entlanggeführt, der von den wartenden Passagieren nur durch eine Glaswand getrennt war. Hunderte Augenpaare richteten sich auf sie. Cora suchte sich selbst in den Blicken dieser Menschen zu erkennen. Ein blondes Mädchen im Polizeigriff war nicht das, was sie erwarteten. Sie drehte sich ein letztes Mal nach dem Flugzeug um, bevor sie von den Beamten zurückgerissen und weitergeschleppt wurde. Was auch immer jetzt geschah, der Flug würde ohne die beiden Männer stattfinden. Im schmerzenden Griff der Beamten begann sie zu lächeln.
1
Die Maschine setzte unsanft auf, aber die Passagiere applaudierten trotzdem. Einer pfiff sogar durch die Finger. Er stieß seinem Sitznachbarn den Ellbogen in die Rippen und zeigte ihm, wie man besonders kräftig in die Hände klatschte. Hinter den Fenstern zog sandsteinfarbene Steppe vorbei, mit Stacheldraht von der Landebahn abgegrenzt. Eine Stimme vom Tonband wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Vincent konnte es nicht erwarten, das Flugzeug zu verlassen. Er rieb sich die müden Augen und nahm sich vor, in der Wohnung einen Mittagsschlaf zu machen.
Der Flug war um 6:45 Uhr gestartet. Die frühe Uhrzeit hatte manche nicht davon abgehalten, noch vor dem Abflug ihr erstes Bier zu trinken. Vincent hatte zwei Männer beobachtet, die Sombreros trugen und an einem Stehtisch beisammenstanden. Draußen war es noch dunkel gewesen, und die Panoramafenster hatten das hellerleuchtete Terminal gespiegelt. Einer der Männer knabberte Nüsse aus einer Schale, der andere blickte verschlafen vor sich hin. Sein Weißbierglas war noch fast voll.
»Was ist denn mit dir?«, sagte sein Kumpel mit Blick auf das Glas.
»Ist schon bisschen früh, ne …«
»Also Tommi, sag mal.« Er klopfte dem anderen aufmunternd auf die Schulter. »Was muss, das muss. Könnte ja dein letztes sein.«
»Sag so was nicht!«
Tommi bekreuzigte sich und lachte. Er nahm einen demonstrativen Schluck von seinem Bier.
»Wer weiß. Vielleicht hat einer von denen noch ’nen Mörser rumliegen. So lang ist es nicht her. Kriegt ’nen Flashback und schon hast du ’n Loch im Kopf.«
»Bei ’nem Mörser hast du mehr als nur ’n Loch im Kopf.«
»Oder, noch besser, die sehen so ein großes