Getriebene. Armin Wühle
aufwachen würde. Er hatte wohl einen Moment zu lange auf den Boden gestarrt, jedenfalls bat Nina ihn, zu ihr ins Bett zu kommen. Die Diskussion um seinen Schlafplatz hatte bereits mehr Raum eingenommen, als es angenehm war, also warf er sein Bettzeug neben sie und löschte das Licht. Sie hatte ein schweres Kissen neben sich aufgebaut, das oberhalb der Hüfte jeglichen Körperkontakt verhinderte. Vincent wusste selbst nicht, was er sich von dem Abend erwartet hatte – das Kissen war es jedenfalls nicht gewesen.
Vincent lag lange wach und achtete auf Ninas Atemzüge. Sie schlief nicht. Es machte ihn nervös, dass sie nebeneinander lagen und nicht schliefen, aber auch nicht miteinander redeten. Er starrte zur dunklen Decke hinauf, bis er nicht mehr wusste, ob er die Augen geöffnet oder geschlossen hatte. Erst, als er ihre tiefen und regelmäßigen Atemzüge hörte, glitt er in einen leichten Schlaf.
Als sein Wecker um halb fünf klingelte, wachte Vincent mit Rückenschmerzen auf, eingezwängt zwischen Kissen und Bettkante. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er hatte darauf bestanden, dass Nina liegen bleiben solle, und das tat sie auch. Er putzte sich die Zähne, nahm seinen Rucksack und schloss hinter sich die Tür.
4
Vincent verbrachte den ersten Morgen in Thikro damit, sich ohne einen Plan durch die Nachbarschaft treiben zu lassen. Er gefiel sich als Flaneur, der sich seine Umgebung und damit den Gegenstand seiner journalistischen Arbeit mit einer gewissen Distanz erschloss. Die Möglichkeiten der Recherche waren begrenzt und die besten Geschichten fanden sich immer noch durch Zufall. Er hielt sich vom Boulevard fern und stellte fest, dass Thikro abseits dessen eine normale Stadt war. Er blickte in fremde Hinterhöfe und wechselte ein paar Worte mit Kindern, die kichernd ihr Schulenglisch an ihm erprobten. In den Straßen wurden die Rollläden hochgezogen und der Duft von frisch gebackenem Brot hing in der Luft. Vincent suchte nach einem Café, in dem er frühstücken konnte, als sein Telefon klingelte. Es war Héctor, sein Fotograf. Vincent zog sich in eine Häuserschlucht zurück und presste den Finger gegen sein linkes Ohr.
»Du lebst noch!«
»Gerade so«, sagte Héctor und lachte. »Entschuldige, dass ich mich so spät melde. Ich war bis gestern in irgendwelchen Tälern ohne Internetempfang.«
»Wo bist du jetzt?«
»In einem Hotelzimmer in Jammu, und ich habe nicht vor, es so schnell zu verlassen. Ich blättere gerade durch die Flyer der Lieferdienste. Wusstest du, dass es hier Domino’s gibt?
»Die gibt’s doch überall.«
»Gelobt sei der freie Markt, die ganze Welt kommt in den Genuss von Chicken BBQ Pizza. Bist du schon in Thikro?«
»Seit gestern.«
»Dein erster Eindruck?«
»Durchgeknallt«, sagte er und fühlte dem Wort nach, das er gewählt hatte. Er gab sich damit zufrieden. »Ja, durchgeknallt. Vor der Mauer reiht sich eine Bar an die andere, und ein paar Kilometer weiter schlagen Granaten ein. Amgar, die Rebellenhochburg, hast du davon gehört? Du kannst sie von hier aus sehen, es gibt eine Aussichtsplattform dafür. Es ist absurd, aber das Konzept geht auf. Dieses dekorative Elend, ein bisschen Exotik, ein bisschen Gefahr. Aber mit den Annehmlichkeiten eines All-Inclusive-Urlaubs … wann kommst du denn in Thikro an? Ich kann dich von der Busstation abholen.«
»Deswegen rufe ich an«, sagte Héctor in einem unguten Tonfall.
»Sag nicht –«
»Mir täte eine Auszeit gut. Das waren ein paar harte Wochen. Wenig Schlaf, immer auf Hochspannung.« Er setzte kurz ab. »Ich möchte nicht in die Details gehen, aber, naja … ich habe viel Blut gesehen.«
Sie schwiegen eine Weile. Vincent blinzelte zum Himmel hinauf, der sich als schmaler Streifen zwischen den Häuserwänden abzeichnete.
»Brauchst du ausgerechnet mich?«, fragte Héctor. »Der Volxmund hat doch selbst gute Leute. Was ist mit Christina?«
Christina war zu anständig – das war der erste Gedanke, der Vincent in den Sinn kam, und diese Tatsache schockierte ihn selbst ein wenig.
»Kannst du dir Christina auf Streife mit den Söldnern vorstellen? Oder bei Recherchen in einer Drogenküche?«
»Klar. Sie ist ein Profi.«
»Christina geht keine Risiken ein.«
»Und ich schon?«
»Du wägst Risiken ab und entscheidest dich dafür oder dagegen, das ist der Unterschied.«
»Was ist mit Liam?«
»Der ist doch ein Depp.«
Vincent lehnte die Stirn an die kalte Wand und schloss die Augen. Er sah bereits seine gesamte Reportage in sich zusammenstürzen.
»Bist du schon an was dran?«, fragte Héctor, um das Thema zu wechseln.
»Nicht wirklich. Ich komme erst mal an, sehe was sich ergibt. Kommende Woche habe ich ein Interview mit Chris Varga, dem Mann, der das ganze Geld in die Stadt pumpt. Aber du weißt ja, wie das ist. Am Ende fliegst du mit völlig anderen Geschichten zurück als erwartet.«
Auf der Straße ratterte ein Obstkarren übers Pflaster, die Warnrufe des Fahrers eilten ihm voraus. Passanten sprangen zur Seite und drückten sich zu Vincent in die Häuserspalte. Es handelte sich um die entscheidenden Minuten ihres Gesprächs, und die Störung erfüllte ihn mit einem kurzen, irrationalen Hass. Er drehte ihnen den Rücken zu und suchte nach den richtigen Worten.
»Héctor, die Bedingungen sind wirklich ideal. Du musst kein Geld für eine Unterkunft ausgeben, du schläfst in meinem Gästezimmer und kannst solange bleiben, wie du möchtest. Und der Volxmund zahlt gut, das weißt du. Ich nehme dir ein Video für meine Kanäle ab, und wenn es mit dem Intruder klappt, kriegst du auch dort noch Bilder unter. Um die Verwertung musst du dir also keine Gedanken machen. Das sind echte Traumbedingungen.«
Héctor sagte nichts.
»Nimm dir ein paar Tage Auszeit in Thikro. Du musst nicht sofort anfangen, es gibt auch keine Deadline. Ich muss sowieso noch einiges an Recherche erledigen. Du kannst dich in der Zwischenzeit ausruhen und die Sonne genießen, oder ein bisschen Party machen, oder beides. Wenn du soweit bist, starten wir.«
Er spürte der Stille in der Leitung nach. Héctor schien zu überlegen.
»Du bist der beste Fotograf, den ich kenne«, fügte er hinzu, weil er wusste, dass es ihn überzeugen würde, und weil es stimmte. »Komm schon, Héctor, bist du dabei?«
Die Altstadt war ein System an Kapillaren. Es war zu feingliedrig, um den Wegen einen Namen zu geben, und es genügte eine geringe Anzahl an Menschen, um es zu verstopfen. Nur selten traten die Berge zwischen den Häusern hervor und gaben ein wenig Orientierung. Vincent hatte sich verlaufen, aber das war nicht weiter schlimm. In Hochstimmung über die gerettete Reportage lief er einfach weiter, bis er auf eine Straße stieß, die er wiedererkannte. Er deckte sich mit Lebensmitteln ein und traf auf dem Rückweg die Haushälterin bei der Gartenarbeit. Er tippte ihr eine Nachricht in den Google Übersetzer. Ich bekomme einen Gast. Er reist Mittwoch an. Die Frau wischte ihre Finger an der Schürze ab und nahm das Telefon entgegen. Sie tippte eine Antwort ein. Ich beziehe das Bett am Nachmittag.
Vincent hievte die Einkaufstüten in den dritten Stock, stellte die Klimaanlage auf höchste Stufe und setzte Kaffee auf. Er würde den Tag damit verbringen, alte Texte zu redigieren, Rechnungen zu schreiben und bei Redaktionen nachzuhaken, die ihm eine Veröffentlichung oder zumindest ein Ausfallhonorar schuldeten. Er konnte nun die Rückstände der letzten Wochen abarbeiten, ohne in Zeitdruck zu geraten. Sein Aufenthalt in Thikro war großzügig berechnet. Für die Recherchen hatte er drei Wochen veranschlagt und er hatte einen Monat dran gehangen, als er von den billigen Mieten in der Stadt erfuhr. Das Devisengefälle drückte die Preise zusätzlich. Seine Wohnung hatte er überteuert zur Zwischenmiete ausgeschrieben und tatsächlich jemanden gefunden, der ihm den hohen Preis zahlte. Zu dem Zeitpunkt, als Vincent ins Flugzeug stieg, hatte er bereits mehr Geld verdient als mit dem Schreiben einer Reportage.