Getriebene. Armin Wühle

Getriebene - Armin Wühle


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er eine Nachricht von Nina erhalten hatte. Genau das hatte er vermeiden wollen. Er wollte sich nicht durch emotionalen Ballast von seiner Arbeit ablenken lassen, und doch fand er keinen Frieden damit, der Böse in dieser Geschichte zu sein, der kräftig Staub aufwirbelte und dann einfach verschwand. Er durchforstete Ninas Social-Media-Kanäle nach einem Anzeichen für ihre Stimmung und fand heraus, dass sie sein erstes Video von der Grenze retweetet hatte. Vincent nahm es als Beweis dafür, dass es um ihr Verhältnis so schlecht nicht stehen konnte, und wandte sich wieder seinen Texten zu.

      Am Nachmittag hatte er den Großteil seiner Arbeit erledigt. Die Haushälterin klopfte, um das Gästebett für Héctor zu beziehen, und Vincent machte eine Pause auf dem Flachdach. Er hob den Aschenbecher auf, der dort auf dem Boden lag, und spazierte über die ungenutzte Fläche. Die Sonne reflektierte unangenehm von den hellen Fliesen. Er stellte sich ans Geländer und schirmte seine Augen mit der Hand ab. Unter dem Halbrund seiner Finger ging der Blick kilometerweit. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete vergeblich auf einen erfrischenden Windstoß. Vincent erinnerte sich an einen Sommertag, den er mit Nina verbracht hatte. Sie waren durch einen entlegenen Teil des Stadtparks spaziert, der von Teichen und hüfthohen Gräsern durchzogen war. Sie hatten sich eine Bahn durch das Gras geschlagen und mit ihrem Handtuch eine Liegefläche plattgedrückt. Über ihnen der Himmel, begrenzt von einer Korona aus Schilfrohr. Nina hatte ihm einen geblasen, aber er hatte keine wirkliche Freude daran gehabt. Die Luft hatte sich im Gras gesammelt und auf ihnen gelegen wie eine kratzige Wolldecke.

      Er drückte die Zigarette nach der Hälfte aus und ging in die Wohnung zurück. Die Haushälterin war bereits verschwunden. Es war kurz nach sechzehn Uhr, der Tag halb angefangen und nicht zu Ende gebracht. Er nahm die Milch aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Flasche, bevor er sie in eine Schüssel goss. Er setzte sich in Unterhosen auf die Ledercouch, die unangenehm an seiner Haut klebte, aß Cornflakes und verfolgte die Nachrichten auf CNN.

      Am Abend gestand er sich ein, dass er sich langweilte. Das Wissen, dass sich in der ganzen Stadt Menschen für den Freitagabend verabredeten, machte ihn unruhig. Er fühlte sich in die Pubertät zurückversetzt, als wartete er auf die Einladung zu einer Party, die er gar nicht besuchen wollte. Er saß am Fenster und blickte auf die Stadt, deren Berge einen rosafarbenen Glanz annahmen. In den dunkelnden Straßen leuchteten Reklamen auf. Er betrachtete einen Berghang, der jenseits der Grenze aufragte. Ein verlorenes Stück Erde, dachte er.

      Vincent verließ das Apartment und ließ sich durch die Straßen treiben. Menschen, Gespräche und hellerleuchtete Geschäfte zogen an ihm vorbei. Ihm wurden Armbanduhren und einzelne Taschentuchpackungen angeboten, ein Straßenmetzger köpfte vor den Augen schaulustiger Touristen ein Huhn. Im Gedränge vor einer Straßenkreuzung hörte er ein eilig gezischtes Hasch. Er nickte dem Mann zu, der es ausgesprochen hatte, und der Mann deutete an, ihm zu folgen. Vincent wurde aus dem Getümmel der Altstadt zu einem nahegelegenen Mietshaus geführt. Die beiden sprachen kein Wort miteinander. Der Mann schob ein Eisentor auf, das den Zugang zum Innenhof versperrte, und führte ihn an einen Tisch. Leselampen waren auf die Tischplatte gerichtet, um das Sortiment in der Dunkelheit erkennen zu können. Er gab dem Verkäufer ein Zeichen und kehrte wieder um.

      »Guten Abend, mein Freund, wie geht es dir?«, sagte der Verkäufer und aschte selbstvergessen in einen Marlboro-Aschenbecher. Vincent murmelte eine Antwort und trat näher. Gras- und Haschsorten lagen in aufgekrempelten Plastiktüten bereit. In einer Schüssel häuften sich kleine Tüten mit bunten Tabletten, daneben wurden Poppers, Viagra und verschieden befüllte Ampullen geboten. Vincent war nicht der einzige Kunde. Neben ihm stand eine Männergruppe in Sommersakkos, die ihren heutigen Rausch beratschlagten. Einer hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beugte sich über den Tisch wie über eine Käseplatte. Der Verkäufer scherzte mit ihnen und erklärte die Unterschiede zwischen den Sorten. Er strahlte den Stolz eines Sammlers aus, der seine besten Stücke präsentierte.

      Vincent betrachtete das Mietshaus, das sich von allen vier Seiten um den Innenhof schloss. Die Flure waren dem Hof zugewandt, Wäsche hing über den Geländern zum Trocknen. Hinter den Fenstern ging das Leben ungerührt weiter. Aus der Dunkelheit löste sich die Gestalt einer alten Frau, die Tee brachte. Sie stemmte sich das Tablett gegen den Bauch, als sie das leere Teeglas des Verkäufers gegen ein volles tauschte. Sie bot auch Vincent ein Glas, und er griff aus Höflichkeit zu. Der Verkäufer verabschiedete derweil die Männergruppe. Er winkte ihr hinterher, nahm seine Zigarette auf und wandte sich Vincent zu.

      »Mein Freund, was kann ich für dich tun?«

      Vincent begnügte sich mit zwei Grassorten in geringen Mengen. Der Verkäufer, der sich als Sam vorstellte, beschrieb ihm die Nuancen ihrer Wirkung und schüttelte die Pollen auf eine Grammwaage. Vincent klemmte ihm die Geldscheine unter die Keramikschüssel. Er hätte gleich gehen wollen, aber der Tee zwang ihn, noch eine Weile zu bleiben. Er war zu heiß, um ihn in einem Schluck hinunterzustürzen.

      »Bist du alleine unterwegs, mein Freund?«

      Vincent nickte.

      »Du bist für die Mädchen hier«, sagte er und grinste Vincent zu, in einer Geste der Verbrüderung. »Ich würd’s sofort mit zehn Verschiedenen treiben, aber ich darf nicht.« Er hielt ihm seinen Ehering vors Gesicht. Er drückte die Tütchen mit dem Gras zu und schob sie über den Tisch.

      »Wo kommst du her?«

      Vincent nannte ihm seine Heimatstadt. Sam machte eine Bewegung, als würde er vor Kälte zittern und lachte. Er war in Plauderlaune und Vincent schimpfte sich selbst, dass er das nicht früher genutzt hatte. Er machte sich locker und warf einen zweiten Blick über den Tisch. Er tat, als wolle er etwas Neues ausprobieren, und ließ sich den Inhalt der Ampullen erklären. Er machte Sam ein Kompliment für sein großes Angebot.

      »Du hast wirklich alles, oder?«

      »Nicht alles, nein, aber ich kann alles besorgen.«

      »Du machst die Leute glücklich, so einen Job hätte ich auch gerne.«

      Sam lachte. Er war dicklich, sein Gesicht rund und bärtig. Mit seinem College-Pullover sah er aus wie der Kumpel von nebenan. Vincent nahm einen Schluck von seinem Tee. »Baust du selbst an?«

      »Wir haben mehrere Fußballfelder, meine Jungs und ich.«

      Sam löste sein Smartphone von dem Ladekabel, das an einer Mehrfachsteckdose unter dem Tisch hing, und tippte etwas ein. Er reckte Vincent das Display hin und wischte mit dem Finger durch eine Galerie. Die Bilder zeigten eine Marihuana-Plantage in den Bergen. Inmitten der Plantage stand Sam, die Pflanzen reichten ihm bis zur Brust. Er feixte in die Kamera und hielt die Arme ausgestreckt, als wolle er sagen: Alles meins.

      »Wir sind ein Familienbetrieb. Wenn wir im Herbst ernten, steht die ganze Familie im Feld, vom Neffen bis zur Großmutter. Wir halten zusammen.«

      Er scrollte weiter durch die Bildergalerie, die in leichter Variation dasselbe Motiv zeigte: Cannabispflanzen, dicht gedrängt, meterhoch.

      »Ist das hier, in Thikro?«

      »In den Bergen, nicht weit von hier.«

      Er kam zu einem Bild, auf dem ein schwarzer Land Rover zu sehen war. Sam stand mit Arbeitshandschuhen auf der Ladefläche und nahm geerntete Marihuana-Stauden entgegen. Sie waren mit Schnüren zusammengebunden und erinnerten Vincent an Weihnachtsbäume.

      »Der Land Rover ist nur für die Arbeit. Ich habe noch einen zweiten Pick-Up, einen Mercedes.«

      Er zeigte ihm noch den Mercedes, dann steckte Sam das Handy zurück an das Ladekabel.Vincent deutete auf die Schüssel mit den Tabletten. »Und was ist damit? Da braucht es doch Maschinen und Labore und so was.«

      »Dafür haben wir Leute«, sagte Sam kurz angebunden und Vincent verstand, wo dessen Grenzen lagen. Er überspielte den kurzen Einbruch, indem er Sam mit gefälligen Fragen fütterte, und sie kamen auch auf die Polizei zu sprechen. Sam antwortete bereitwillig und ließ Vincent einen zweiten Tee bringen. Die Polizisten seien wie Brüder und verdarben einem nicht das Geschäft, solange man diskret blieb. Man kenne sich in der Stadt und wisse, womit die Leute ihr Geld verdienten. Eine Krähe hacke der anderen nicht das Auge aus, nicht nach dem Unglück,


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