Getriebene. Armin Wühle
gibt und weil dort das Geld liegt. Bewirbst dich mit einem Master of Science auf eine Kellnerstelle. Und bist froh, den Leuten für ein gutes Trinkgeld den Mundwinkel abzuwischen.«
Milo starrte vor sich ins Leere, dann musste er plötzlich lachen und hob den Blick. »Entschuldige, Vincent. Das war ein bisschen viel für den Anfang.«
»Schon gut, deine Wut ist ja gerechtfertigt. Du könntest locker drei Billboards aufstellen.«
»Ein großartiger Film!« Milo balancierte sein Teeglas zwischen den Fingern. »Braindrain ist der Anfang dieser Misere und der Grund, warum es eine bleibt. Das Thema verfolgt mich. Ich habe schon mehrere Artikel dazu geschrieben.«
»Du schreibst selbst?«
»Hin und wieder, wenn mich ein Thema interessiert. Es bringt nicht viel ein, aber ich mach’s gerne … Wäre traurig, immer nur der Steigbügelhalter für andere zu sein. Am Ende steht euer Name drauf und ihr behaltet den Löwenanteil des Honorars.«
»Beim Volxmund nennen wir immer die Namen der Fixer.«
»Danke, aber das ist das Mindeste. Ohne Leute wie mich wärt ihr aufgeschmissen.«
»Du hast ja recht … du kriegst ein viertes Billboard.«
Milo zog einen Mundwinkel nach oben. Vincent mochte ihn auf Anhieb.
»Also Vincent, lass uns konkret werden. Was hast du vor und wie kann ich dir helfen?«
Vincent nickte und zog eine Mappe mit Recherchematerial aus seiner Tasche. Er öffnete sie jedoch nicht, verschränkte nur die Hände darüber und begann zu erzählen.
»Wir haben ja einiges per Skype besprochen, bitte unterbrich mich, falls ich mich unnötig wiederhole. Ich arbeite als fester Freier für den Volxmund, das ist eine linke Tageszeitung mit großem Online-Magazin. Mit denen habe ich eine ausführliche Reportage vereinbart, tausend Wörter, im Stil einer kritischen Reisereportage. Ich begleite Touristen durch die Grenzanlagen, an den Schießstand und in die Clubs. Versuche herauszufinden, mit welcher Motivation die Menschen nach Thikro kommen. Sie könnten ja überall Urlaub machen, aber warum entscheiden sie sich für eine zerstörte Stadt am Rande des Kriegs? Das ist die eine Perspektive, die andere ist die der Einheimischen. Was macht dieser neue Tourismus mit ihnen und der Stadt? Wie stark hat sich ihr Leben verändert, und wie gehen sie damit um, aus der eigenen Leidensgeschichte Profit zu schlagen?«
Vincent ließ Raum für Kommentare, aber Milo nickte bloß und deutete ihm an, weiterzuerzählen.
»Ich brauche dich im nächsten Monat vor allem als Kontaktmann, natürlich auch als Dolmetscher. Als Nächstes steht der Ausflug an den Schießstand an, da hätte ich dich gerne dabei.«
Milo zog einen Kalender aus seiner Weste und sie vereinbarten Termine für die kommende Woche. »Ich kann dich einer Freundin von mir vorstellen, Cora. Sie hat die letzten Jahre als Entwicklungshelferin in Thikro gearbeitet. Falls du etwas Kontext brauchst.«
»Kann nicht schaden«, murmelte Vincent und notierte sich ihren Namen. Als sie das Café verließen, sank bereits die Sonne hinter den zerschossenen Fassaden. Nach Stunden in einem stark klimatisierten Raum fühlte sich die Stadt wie ein Backofen an. Vincent betrachtete die Grillhähnchen, die sich in einem nahegelegenen Imbiss am Spieß drehten. Das Fett tropfte von der knusprigen Haut und verdampfte, sobald es auf die heiße Platte traf. Er wollte schnell unter die Dusche.
Milo hob seinen Autoschlüssel in die Höhe. »Ich bring’ dich nach Hause.«
»Ich hab’s nicht weit, eine Viertelstunde zu Fuß.«
Milo grinste. »Einen Ausländer erkennt man daran, dass er zu Fuß geht. Wir machen hier alles mit dem Auto. Selbst die ärmeren Familien haben ein Auto oder zwei.«
»Varga hat euch doch so schöne Gehwege spendiert!«
»Keine Widerrede«, sagte Milo und klopfte ihm auf die Schulter. Sie stiegen in seinen Wagen und kurbelten die Fenster hinunter, damit die angestaute Hitze entweichen konnte. Um den Rückspiegel war eine Gebetskette geschlungen, die beim Ausparken hin und her schwang.
Milo fädelte sich in den stauenden Feierabendverkehr. Es dauerte nicht lange, bis ein Junge im Grundschulalter an ihre Fensterscheibe klopfte. Rote Pusteln überzogen Hals und Gesicht. Er bot ihnen Taschentücher zum Verkauf. Milo reagierte nicht auf ihn, auch nicht, als er ein drittes und viertes Mal klopfte und seine schorfigen Hände zu einer bittenden Geste zusammenlegte. Als er begriff, dass er keinen Erfolg haben würde, ging er weiter die Wagenreihen ab. Vincent sah dem Jungen hinterher.
»Varga lässt hier ganze Stadtteile und Industrien entstehen, aber wenn ich mir diesen Jungen ansehe, habe ich meine Zweifel, ob das bei den Menschen ankommt.«
»Versteh mich nicht falsch, meine Abscheu gegenüber Varga ist grenzenlos. Aber ohne ihn stünden wir schlimmer da. Der Krieg hat ihm lukrative Geschäfte ermöglicht, aber dabei fallen genügend Krumen für den Rest ab. Auf einmal gibt es einen Flughafen, es werden Häuser und Straßen gebaut, Strom und Internet sind stabiler als zuvor. Ausländer lassen ihr Geld in den Geschäften und bezahlen dich dafür, dein zerbombtes Haus zu fotografieren.« Milo scherte auf eine freie Spur aus und schaltete hoch – Vincent streckte gierig den Kopf in die Zugluft. »Deshalb gibt es einen großen Rückhalt hier, was Varga und die Miliz betrifft. Das hier war eine sterbende Stadt. Zelte zwischen Trümmern, so hat das hier ausgesehen, und das ist nicht lange her. Die meisten profitieren von den Veränderungen – auch Leute wie Sam, der übrigens Samir heißt, ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Der Mensch versucht, den größtmöglichen Vorteil aus seiner Situation zu schlagen, das war nie anders. Der Krieg hat niemanden von uns besser gemacht.«
Milo fuhr sie in einem Zickzackkurs, der sich nur Einheimischen erschließen konnte, durch die Gassen der Altstadt. Er trieb Passanten und Mofafahrer vor sich her und hob immer wieder grüßend die Hand, wenn er einen von ihnen kannte.
»Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte Milo, scheinbar zusammenhangslos.
Vincent lachte. »Wieso?«
»Ich habe häufig mit Journalisten und Auslandskorrespondenten zu tun. Viele haben gescheiterte Ehen hinter sich.«
»Tja, das ist wohl Berufskrankheit. Wenn du wirklich erfolgreich sein willst, muss sich dein Privatleben unterordnen«, sagte Vincent und dachte dabei an Nina. Er ging nicht weiter auf das Thema ein, und Milo schien seine eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Vor Vincents Apartment kamen sie zum Stehen.
»Also Donnerstag, neun Uhr dreißig.«
»Der Veranstalter heißt Thikro Travel & Ammo, wir treffen uns an deren Schalter.«
»Wenn du Fragen hast, ruf mich an oder schreib mir bei WhatsApp.«
Sie gaben sich die Hand, und Vincent verließ den Wagen mit der plötzlichen, warm pulsierenden Zuversicht, dass er in Milo seinen Sherpa gefunden hatte.
6
Wie die Ausläufer einer Welle, die tiefer ins Land züngeln als die Übrigen, schwappte der Krieg nach Thikro. Lange erschien die Stadt zu klein, zu randständig für die Umwälzungen der Zeit. Aus Gefechten, die sich Splittergruppen mit einem schwachen Staatsapparat lieferten, entstand jedoch ein Flächenbrand, der sich weit über dessen Ausgangspunkt erstreckte. Demonstranten versammelten sich in den Straßen der Hauptstadt, Teile des Militärs liefen zu den freien Armeen über. Unterschiedlichste politische, ethnische und religiöse Lager erhoben ihre Ansprüche und bildeten Streitkräfte, die wechselnde Zweckbündnisse miteinander eingingen. Stück für Stück glitt der Staat in die Bedeutungslosigkeit ab, und die Waffen, die die Aufständischen gegen den gemeinsamen Feind erhoben hatten, richteten sich bald gegeneinander. Aus dem Land wurde ein Flickenteppich schraffierter Flächen, die sich wöchentlich verschoben. Die Kämpfe um die neue Vorherrschaft erreichten eine neue Stufe der Grausamkeit – und noch immer blieb Thikro weitgehend davon verschont.
Der Konflikt währte bereits zwei Jahre, als sich eine Rebellengruppe in den Bergen um Thikro verschanzte. Im Städtchen Amgar fanden sie eine ausreichende