Getriebene. Armin Wühle
Buddy.
»Wann kam denn der letzte?«, fragte Vincent.
Der Söldner zuckte mit den Schultern. »Vor einem halben Jahr?«
Sein Lächeln war angenehm und gutmütig, ohne Vorbehalt. Er strahlte eine souveräne Offenheit aus, die antrainiert war wie seine Muskeln. Eine aufgenähte Flagge über der Brust wies ihn als SU-Offizier Iversen aus. Buddy Iversen nannte Vincent ihn in Gedanken und später in der Reportage.
Er führte die Gruppe durch die abgedunkelten Museumsgänge, die den Märtyrern von Thikro oder den Helden der Befreiung gewidmet waren. Eine schmucklose Wellblechbaracke von außen, war das Museum innen aufwendig gestaltet. Buddy Iversen führte sie durch ein multimediales Ausstellungskonzept, vorbei an Exponaten, Videosequenzen und Schaubildern, die mit dezenten Spotlights unterstrichen wurden. Der Angriff auf den Wochenmarkt wurde, wenig überraschend, den Rebellen zugeschrieben, und die vermeintlichen Beweise dafür unter Plexiglas ausgestellt. Mit dem Bau der Grenzanlagen und dem unerschrockenen Einsatz der SU-Miliz für die Union endete die Ausstellung. Eine Tafel listete die Namen der Spender auf, mit deren Mitteln das Museum errichtet worden war. Vincent fotografierte sie für seine Recherchen ab.
Durch einen hellerleuchteten Ausgang traten sie ins Freie. Vincents Augen mussten sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen; halb benommen vom Tageslicht stieg er eine Gittertreppe hinauf, bis sie die Höhe der Mauer erreicht hatten. Sie passierten einen mit Stacheldraht bewehrten Wachturm und betraten die Aussichtsplattform, die mehrere Meter ins Kriegsgebiet hineinragte.
Viel zu sehen gab es nicht. Vor ihnen lag ein unbewohntes Tal, vom selben Sandstein geprägt wie die andere Seite. Münzfernrohre standen in einer Reihe, um das Gebiet auszukundschaften. Der Blick ging mehrere Kilometer weit, bis er auf die reflektierenden Scheiben einer Stadt traf; dort lagen die Schachtelhäuser der Rebellenhochburg Amgar.
Ein gespanntes, fast schon ehrfürchtiges Schweigen hatte die Gruppe erfasst. Der Wind zog über die Plattform, heulend und trostlos. Wie auf ein stilles Signal, als erinnerten sich die Besucher daran, dass sie selbst in Sicherheit waren, setzten die Gespräche wieder ein. Kameras wurden hervorgeholt, und ein agil auftretender Rentner, den Vincent einer Studiosus-Reisegruppe zurechnete, bat seine Frau um ein Weitwinkelobjektiv. Er wollte das absurde Bild einfangen, das sich auf der Mauer bot: rechts das engbebaute, sich überstapelnde Thikro, links die weite Steppe.
Vincent trat ans Geländer. Er besah sich die mehrstufige Grenzanlage, die zu überwinden seit Jahren keinem Menschen gelungen war.
»Im Frühjahr haben wir mit den Bauarbeiten für einen Wassergraben begonnen«, erzählte ihm Buddy Iversen, den er um eine Erläuterung der Abwehrsysteme gebeten hatte. Dabei hielt er den sonnenbebrillten Blick in die Höhe gereckt, als spreche er nicht zu Vincent, sondern zum Himmel; in seiner Stimme schwang unverkennbar Stolz. Mehrere Besucher traten in Hörweite. »Der Wassergraben wird entlang der zwei Kilometer breiten Talöffnung gezogen. Ende des Jahres wird er fertiggestellt werden und die erste Hürde für potentielle Angreifer bilden. Die Bauarbeiten werden von einem Hochsicherheitsteam überwacht.«
Buddy Iversen wies in eine Richtung, und die Köpfe der Anwesenden folgten ihm. Sie sahen einen aufgerissenen Streifen Erde, aus dem der Arm eines Schaufelbaggers ragte. Vier schwer gepanzerte Wagen flankierten die Baustelle und die Bauarbeiter. »Auf den zukünftigen Wassergraben folgt ein drei Meter fünfzig hoher Drahtgitterzaun, der mit Rasierklingen besetzt ist und bei Bedarf unter Strom gesetzt werden kann. Danach sehen Sie eine Schotterpiste, die wir für unsere Kontrollfahrten nutzen, und letztlich die Stahlbetonmauer, auf der wir gerade stehen – sechs Meter hoch, einsfünfundzwanzig im Durchmesser, mit Stacheldrahtbewehrung und Wachtürmen im Abstand von zweihundert bis achthundert Metern. Nachts werden unsere Männer von Wärmebildkameras und Bewegungsmeldern unterstützt. Es sind aber meist nur wilde Tiere, die den Alarm auslösen.«
»Dürfen Sie auch schießen?«, fragte einer der Besucher.
»Nur in einer Bedrohungssituation. Aber in diesem Fall hat das Gegenüber nichts zu lachen, glauben Sie mir. Unser Waffenarsenal ist immens, und unsere Männer werden in Trainingslagern regelmäßig auf verschiedene Szenarien vorbereitet. Wenn ich offen sprechen darf: Wer so dumm ist, sich mit uns anzulegen, ist selbst schuld. Den meisten ist die Mauer aber Abschreckung genug.«
»Was ist mit Menschen, die flüchten? Sind die auch eine Bedrohung?« Vincent war überrascht, eine halbwegs kritische Frage zu hören. Er sah einige Gesichter einen nachdenklichen, betroffenen Ausdruck annehmen. Andere verschränkten die Arme oder traten peinlich berührt von einem Fuß auf den anderen. Der Fragesteller, ein Rotschopf im mittleren Alter, registrierte den Stimmungswechsel und fühlte sich gezwungen, seine Aussagen zu kommentieren. »Also, da drüben herrscht ja Krieg, natürlich versuchen die, hier durchzukommen, auf die sichere Seite. Das ist zwar nicht erlaubt, aber es ist ja menschlich nachvollziehbar.«
Buddy Iversen antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln. »Dafür gibt es Gesetze und Asylverfahren. Wer auf diese Mauer zusteuert, hat nichts Gutes im Sinn.«
Damit war das Thema erledigt. Er fuhr mit der Beschreibung der Grenzanlagen fort, und Vincent ließ ihn inmitten seiner Ausführungen zurück. Er schloss die Hände ums Geländer und blickte ins Tal hinab. Auch Vincent konnte sich des Grusels nicht erwehren, den der Anblick in ihm auslöste. Scheinbar friedlich lag das Tal vor ihm, und doch war er nur einen Steinwurf entfernt von der Hölle des Kriegs. Vincent musste an ein Ungeheuer denken, dessen Fesseln gerade so weit reichten, dass man seinen schlechten Atem riechen konnte, und das man doch auf sicherem Abstand wusste. Er übernahm eines der Fernrohre und streifte durch die zerstörten Straßen Amgars, bis ihm eine der schwarzen Rebellen-Flaggen vor die Linse kam. Aus einem Land mit jahrtausendealter Geschichte, mit vibrierenden Großstädten und Kulturszenen waren weiße Flecken geworden, die in den letzten Jahren kaum ein Ausländer zu Gesicht bekommen hatte. Trotzdem blieben die dort stattfindenden Gräueltaten in aller Munde, aufbereitet von Nachrichtensendungen, Reportagen und Spendenaufrufen. In der gesamten Welt wuchsen Generationen heran, die das Gebiet mit nichts anderem verbanden als mit Tod und Verderben – und die ihre Heimatländer dafür lieben sollten, ihnen den Frieden geschenkt zu haben.
Mit einem Sonnenbrand im Nacken und fünf vollgekritzelten Notizbuchseiten, auf denen er Gespräche mit Touristen und Buddy Iversen festgehalten hatte, kehrte Vincent in sein Apartment zurück. Er überlegte, einen Abstecher ins Garden zu machen, und mischte sich stattdessen ein großes Glas Rum-Cola in der Küche. Er streckte seine müden Glieder unter den Tisch und blätterte in seinen Notizen, auf der Suche nach einer Szene, die er in 280 Zeichen über den Äther jagen konnte. Er blätterte vor und zurück, doch die Sätze verschwammen vor seinen Augen. Er seufzte auf und bettete seinen müden Kopf auf die Tischplatte. An solchen Abenden fragte er sich, warum er sich selbst so unter Druck setzte; warum er sich zum Getriebenen seiner eigenen Geltungssucht machte. Sich als freier Journalist zu etablieren, mehr noch, damit erfolgreich zu sein, kostete unsäglich viel Kraft. Er fragte sich, ob eine Karriere das alles rechtfertigte: ständig dem nächsten großen Thema hinterherzuhecheln, der nächsten gelungenen Schlagzeile, der nächsten fein justierten Provokation, die den Artikel kontrovers machte und in den Feeds nach oben pushte. Letztlich blieben diese Gedankenspiele aber ohne Konsequenz. Sie waren ein bloßes Tribut an seinen selbstkritischen Geist – er würde auch am nächsten Tag aufstehen und seine Steine den Berg hinaufrollen.
Vincent schusterte einen Post zusammen und bestellte Pizza bei Domino’s. Er verbrachte den restlichen Abend damit, sich einheimische Filme anzusehen, in denen sich Angehörige der Oberschicht unglücklich in ihre Bediensteten verliebten. Er klebte mit der Backe an der Ledercouch und blickte katatonisch auf den Bildschirm. Auch ohne den Text zu verstehen konnte er der Handlung leicht folgen. Das übertriebene Mienenspiel erinnerte ihn an die Laien-Theatergruppe, in der Nina spielte. Er hatte sich immer am Dilettantismus ihrer Gruppe gestört, und noch mehr störte ihn, dass sich Nina damit zufrieden gab. Sie war mit Abstand die beste Schauspielerin, die einzige mit professioneller Ausbildung. Sie hatte aus vernünftigen Gründen den Theaterbetrieb verlassen, aber anstatt sich ein freies Kollektiv zu suchen, hatte sie einen Bürojob angenommen und sich damit begnügt, in ihrer Freizeit zu spielen. Sie sei zufrieden mit diesem zwanglosen Spiel, sagte Nina, zufrieden mit einem