Getriebene. Armin Wühle

Getriebene - Armin Wühle


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erklärten. Bei Vincents erstem Schuss war der Rückstoß so stark, dass seine rechte Schulter zurückgerissen wurde. Er erschrak, und der Sergeant, der zufällig in der Nähe stand, lachte trocken auf. Er packte Vincent an den Schultern, drückte ihm die Faust in den Rücken und korrigierte seine Haltung, dann forderte er ihn auf, nochmal zu schießen. Vincent brauchte einige Anläufe, doch dann traf er die inneren Ringe der Scheibe. Das Gefühl, eine todbringende Waffe abgefeuert und das Ziel getroffen zu haben, war überraschend berauschend. Gerade nach dem Wortwechsel mit Milo schämte er sich, so zu denken, aber es war nicht zu leugnen. Auch die Übung mit dem Maschinengewehr hatte ihm Spaß gemacht. Der Sergeant ließ die Zielscheibe mit einem Knopfdruck zu sich fahren und überreichte sie ihm feierlich.

      »Die darfst du behalten.«

      Er zwängte eine neue Pappe in die Halterung und ließ sie in größerer Entfernung zurückfahren. Seine Schüsse gingen nun allesamt daneben. Vielleicht war das auch besser so, dachte Vincent.

      Bei der nächsten Pause bat er den Sergeant um ein Interview. Der Mann entsprach mit seinem aufgepumpten Oberkörper und den kurz geschorenen Haaren jeglichen Militärklischees. Er führte sie aus dem Schießstand und in den Schatten einer nahegelegenen Zeder, wo sie auf Kühlboxen Platz nahmen. Milo übersetzte die Worte des Sergeants in der ersten Person, noch bevor Vincent ihn darum gebeten hatte.

      »Die Leute sollen ihren Spaß haben. Das ist das wichtigste, die sind ja in ihrem Urlaub … Aber wir bringen ihnen auch etwas bei. Jeder Mensch sollte mal eine Waffe in den Händen gehabt haben und wissen, wie man damit umgeht … Die Leute werden ja immer weicher, gerade die Männer. Von denen weiß ja kaum einer mehr, wie man schießt … Die lehnen sich zurück und denken, denen passiert schon nichts, jemand anderes wird es schon richten. Aber das kann gefährlich sein und mitunter tödlich … Der Terrorismus lauert überall, das ist bei euch nicht anders als hier. Es geht hier um Selbstverteidigung, nicht um Angriff … Wenn da ein Irrer kommt und deine Frau vergewaltigt und deine Kinder vergewaltigt, vor deinen Augen, oder wenn er eine Bombe zündet, dann stehst du nicht daneben und sagst: Bitte nicht… Ich war selbst während der Belagerung in der Stadt, habe von innen heraus die Truppen der Union unterstützt, ich weiß, wovon ich spreche … Ja, den Schießstand habe ich selbst aufgebaut, und die Nachfrage ist wirklich immens … Wir machen auch Seminare, die gehen ein oder zwei Wochen lang, da ist die Gangart schon härter … Schießtraining, Nahkampf, Selbstverteidigung, Überlebenstraining in der Natur, auch Grundlagen asiatischer Kampfsportarten … Dafür kommen Gruppen aus allen Teilen der Welt, die wissen, dass wir hier Expertise haben … Aber das hier, diese Tagesseminare für Touristen, da steht wirklich der Spaß und das Ausprobieren im Vordergrund …«

      Nach einer halben Stunde beendete Vincent das Gespräch. Er hatte einige großartige O-Töne aufgenommen, die er im Kopf bereits zu Teasern formte. Er dankte Milo für die Übersetzung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Während des Interviews war die Gruppe zur nächsten Station weitergezogen, und der Sergeant brachte sie in einem Golfwägelchen dorthin.

      Die Teilnehmer waren in Teams aufgeteilt worden und probten eine Gefechtssituation. Zwei verwinkelte Rohbauten dienten ihnen als Parcours. Sie jagten sich über das Geländer und schossen mit Farbpatronen aufeinander. Wer getroffen wurde, musste auf dem Boden liegen bleiben und tot spielen.

      Milo und Vincent stiegen aus dem Wagen und traten neben Héctor, der die Szene aus der Ferne verfolgte. Sie sahen den Teilnehmern dabei zu, wie sie ihre Paintball-Gewehre schulterten und sich aus dem zweiten Stock des Gebäudes abseilten. Die Mitarbeiter des Schießstands brüllten ihnen Anweisungen zu, während andere direkt aus dem Fenster sprangen und auf Schaumstoffmatten das Abrollen probten. Héctor trommelte mit den Fingern auf seine Kamera und sah zu den beiden hinüber.

      »Ich glaube, wir sind hier fertig.«

      Vor dem Eingang zum Schießstand warteten sie darauf, dass die Teilnehmer ihr Programm beendeten und der Bus sie zurück nach Thikro brachte. Vincent und Héctor saßen auf dem Bordstein und schirmten das Kameradisplay vor der Sonne ab. Sie gingen die Aufnahmen durch und trafen eine erste Vorauswahl. Beide waren müde, aufgekratzt und glücklich. Sie teilten sich eine Zigarette und spürten das Adrenalin langsam abflauen.

      »Habt ihr Zeit für einen kleinen Ausflug?«, fragte Milo, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Die beiden blickten zu ihm auf.

      »Wohin soll es denn gehen?«

      »Das ist eine Überraschung.« Er hielt die Hände in den Hosentaschen vergraben und grinste. »Journalisten fahren in fremde Länder, um das Schlechte zu finden. Ich zeige euch etwas Schönes, einverstanden?«

      Vincent warf einen Blick zu Héctor, dem er eine frühe Heimkehr versprochen hatte, doch Héctor zuckte nur mit den Schultern und nickte. Milo verschwand in den Straßen des Dorfes, das an den Schießstand grenzte, und kam eine Viertelstunde später in einem alten Peugeot Viersitzer zurück. Er saß auf dem Beifahrersitz und kurbelte das Fenster hinunter.

      »Ist das ein Taxi?«, fragte Vincent.

      »Nein, das ist Josua.«

      Der Mann hinter dem Steuer trug einen staubigen Anzug und hob grüßend die Hand. Milo nannte ihnen den Preis, den er ausgehandelt hatte, und Vincent reichte ihm die entsprechenden Scheine weiter. Josua steckte sie in seine Jackentasche, räumte einen Kindersitz und Plastikflaschen von der Rückbank, und sie stiegen ein.

      Sie waren erst wenige Minuten gefahren, als Josua den Blinker setzte und am Straßenrand hielt. Milo kurbelte das Fenster hinunter und eine alte Frau streckte ihren Kopf ins Wageninnere. Sie hatte ein fadenscheiniges, weißes Tuch um die Haare gebunden. Nach einem kurzen Wortwechsel löste Milo seinen Gurt. Er kletterte zwischen den Sitzen hindurch und pferchte sich zwischen Vincent und Héctor auf die Rückbank.

      »Wir nehmen sie ins nächste Dorf mit. Sie steht schon eine Weile an der Straße.«

      »Warum fährt sie denn per Anhalter?«

      »Das macht ihr nichts aus. Es ist nicht gefährlich, sagt sie. Schon als junges Mädchen ist sie die Strecke getrampt.«

      Vincent drückte seine Beine zur Seite, damit sich Milo anschnallen konnte, und stellte fest, dass das nicht möglich war. »Du hast ja gar keinen Gurt, Milo.«

      »Schon okay, solange die beiden Ausländer angeschnallt sind. Ich kann nicht zulassen, dass einer von euch stirbt. Das gibt schlechte Publicity für die Stadt.«

      »Wir können tauschen!«, sagte Héctor, der sich noch nicht an Milos Humor gewöhnt hatte, und Milo gab sich keine Mühe, darauf zu antworten. Die alte Frau hatte indes auf dem Beifahrersitz Platz genommen und drehte sich zu ihnen um. Sie hatte kein Gebiss mehr, Ober- und Unterlippe waren eingefallen. Sie streckte jedem einzelnen die Hand entgegen und murmelte einen Dank, den Milo nicht zu übersetzen brauchte. Ihre Hände waren so dünn und leicht wie Hühnerknochen.

      Während der Fahrt wurden Vincent und Héctor zu Zaungästen eines Gesprächs, das die Einheimischen untereinander führten. Auch wenn es die zitternde Stimme der Alten nicht vermuten ließ, gab sie anscheinend ein Bonmot nach dem anderen zum Besten. Milo und Josua brachen regelmäßig in Gelächter aus.

      »Was erzählt sie denn?«, flüsterte Vincent.

      »Sie flirtet mit uns«, sagte Milo. »Sie sagt, sie ist froh, mit vier so hübschen jungen Männern zu reisen, die anderen Großmütter würden sicher eifersüchtig. Daraufhin Josua: ›Muttchen, ich mache mir Sorgen um deine Augen, ich bin doch hässlich wie die Nacht.‹ Daraufhin sie: ›Lass dir nichts einreden, so riesig ist dein Zinken nicht, wie alle immer sagen, und ein Auto hast du auch noch‹ …«

      Durch die Flüsterübersetzung erneut auf die Ausländer aufmerksam geworden, drehte sich die Alte zu ihnen um. Ihre Augen waren glasklar und blau wie der Himmel. Sie sagte etwas und blickte Milo in Erwartung einer Übersetzung an.

      »Sie möchte wissen, woher ihr kommt«, sagte Milo und übernahm es selbst, die beiden Männer vorzustellen. Héctor zog sich an der Nackenstütze nach vorne und suchte Milos Blick.

      »Frag sie mal, wen sie hübscher findet, mich oder Vincent.«

      Vincent


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