Getriebene. Armin Wühle
Gras und größeren Mengen Pep ein. Vincent stand in höflicher Distanz und hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er beobachtete ein paar Kinder, die auf Bobbycars saßen und Wettrennen durch den Innenhof fuhren.
»Für dich nichts, mein Freund?«, fragte Sam, und Vincent winkte ab. Er nahm eine Sprachnachricht für Milo auf, mit dem er mittlerweile auch privaten Kontakt hielt. Er teilte ihm letzte Instruktionen für den morgigen Tag mit und Milo reagierte prompt mit dem bissigen Sarkasmus, den Vincent so sehr an ihm schätzte. Grinsend schob er sein Handy zurück, während Sam den Einkauf über den Tisch reichte.
»Kommt bald wieder vorbei, meine Freunde!«, sagte er und brachte sie zum Tor. Sie teilten sich einen Joint auf dem Nachhauseweg und ignorierten die Straßenköche, die ihre Gasgrills bereits ausgeschaltet hatten und ihre letzten gefüllten Fladenbrote zu Geld machen wollten, bevor sie mit den übrigen Abfällen im Straßengraben landeten.
8
Das Rattern der Maschinengewehre durchbrach die Stille. Er nahm den Finger vom Abzug, wartete einige Sekunden und betätigte ihn erneut. Selbst durch die Ohrenschützer drang das Stakkato des Dauerfeuers. Vincent kauerte auf dem Boden und blickte durch das Visier seiner MG34. Hinter dem Fadenkreuz lag eine Strohpuppe, weiß und gesichtslos. Auch links und rechts von ihm wurde geschossen, das Stakkato schwoll an und hielt sich auf hohem Niveau. Er spielte Szenen aus Actionfilmen in seinem Kopf ab, Filme, die er nie sonderlich gemocht hatte, bis er selbst eine MG34 in den Händen hielt. Er leckte sich über die trockenen Lippen und setzte weitere Schüsse ab. Als er wieder die Augen vom Visier nahm, lag der Schutzwall hinter der Puppe in Wolken – all die Fehlschüsse, die dort eingingen, ließen Staubsäulen in die Luft steigen. Vincent versuchte, sich an die Anweisungen des selbsternannten Sergeants zu erinnern, der in wirschem Tonfall und nachlässigem Englisch zu ihnen gesprochen hatte, doch er erinnerte sich allein an die Mahnung, Pausen zwischen den Feuerstößen zu lassen.
»Du darfst nicht zu lange schießen, sonst –« Mangels Vokabular hatte er abgesetzt und mit den Händen einen Gewehrlauf geformt, der sich verbog. »Sonst wird zu heiß und kaputt.«
Vincent blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und setzte von Neuem an. Er nahm seine Puppe ins Visier, deren Kopf bereits in Fetzen hing und massiv Stroh verlor. Er durchlöcherte den Rumpf, bis die Puppe in Einzelteilen da hing. Als seine Finger den Abzug gedrückt hielten, ohne dass etwas passierte, war der Spaß vorbei.
Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose und sah sich nach Héctor um. Dieser fotografierte gerade ein junges Paar, das bereits mit der Übung fertig war. Sie hatten je eine Hand um die Hüfte ihres Partners gelegt, in der anderen hielten sie ihr Maschinengewehr. Vincent hoffte, dass die Waffen gesichert waren.
Der Sergeant rief indes die Gruppe zusammen. Die Teilnehmer bildeten einen Halbkreis um die Maschinengewehre, die auf Dreibeinen standen und eine lange Reihe bildeten. Milo, der noch nichts zu übersetzen gehabt hatte und deshalb mit verschränkten Armen an der Seite stand, trat neben ihn.
»Und, gefällt’s dir?«, flüsterte Vincent.
»Ihr spielt hier Krieg. Man müsste euch eure Privilegien in den Hals stopfen, damit ihr daran erstickt.«
Vincent riss die Augen auf.
»Ich übertreibe«, sagte Milo. »Ein wenig.«
»Héctor und ich sind aus rein journalistischen Gründen hier. Teilnehmende Beobachtung und so.«
»Euch beide nehme ich raus, da bin ich großzügig.«
Der Sergeant demonstrierte indes sein Können, indem er eines der Maschinengewehre nahm, das Dreibein löste und stehend die Puppe eines Teilnehmers ins Visier nahm, die weitgehend unversehrt geblieben war. Mit gezielten Feuerstößen zerstörte er zuerst den Kopf, das Herz und zuletzt den Schritt. Seine fleischigen Wangen zuckten unter dem Lächeln, mit dem er sich wieder der Gruppe zuwandte. Er legte das Gewehr zurück und führte die Teilnehmer zur nächsten Station.
Auf dem weitläufigen Gelände verteilten sich Scheunen und Schießstände, über denen die Luft flimmerte. Einige Teilnehmer tauchten Tücher unter das Wasser einer Pumpquelle, bevor sie sich den nassen Stoff um den Kopf banden. Nach den Maschinen- und Sturmgewehren sollten sie nun die Möglichkeit bekommen, Handfeuerwaffen zu testen. Der Sergeant geleitete sie zu einem überdachten Schießstand, und Vincent nutzte die Zeit, um mit den Teilnehmern ins Gespräch zu kommen. Zwölf Personen befanden sich in ihrer Gruppe, sieben Männer und fünf Frauen. Er steuerte auf ein Ehepaar mittleren Alters zu, das ihn bereits bei der Vorstellungsrunde neugierig und mitteilungsbedürftig angesehen hatte. Der Mann war Schulpsychologe, seine Frau arbeitete für eine Werbeagentur.
»Wir wollten etwas Aufregendes erleben, etwas Einmaliges«, sprach der Mann in Vincents Diktiergerät. »Am Strand rumzuliegen ist nicht unser Ding. Dann haben wir das Angebot für das Schieß- und Überlebenstraining entdeckt.«
»Sie sind explizit für das Training angereist?«
»Genau, wir haben auch Privatstunden hinzugebucht. Ein halber Tag reicht ja nicht, um wirklich was zu lernen.«
»Gefällt es Ihnen?«
»Definitiv. Es ist wirklich beeindruckend, was der Sergeant alles erlebt hat. Auf der Homepage steht seine ganze Geschichte, wie er den Aufstand gegen die Rebellen angezettelt hat, wie er später in der SU gedient hat. Dass uns so jemand an der Waffe ausbildet, das ist schon eine Ehre.«
Dann drängte sich seine Frau vors Mikrofon. »Wir kommen selbst aus der Union, da finde ich es gut, unser Geld bei unseren neuen Brüdern und Schwestern zu lassen. Das ist ja auch eine Form von Entwicklungshilfe. Unser Taxifahrer hat mir erzählt, dass die Stadt richtig aufblüht, seit die Touristen kommen, das freut mich, da bin ich gerne ein Teil davon.«
»Werden Sie neben dem Schießtraining noch etwas unternehmen?«
»Natürlich sehen wir uns die Grenze an und klopfen unseren Jungs dort auf die Schulter. Aber dann geht’s nach Hause, am Montag müssen wir wieder arbeiten.«
Vincent dankte den beiden und beendete die Aufnahme. Er sah sich nach seinem nächsten potenziellen Interviewpartner um und bemerkte, wie die Blicke der übrigen Teilnehmer zu Boden wanderten. Als Journalist löste er häufig diese Reaktion aus. Dabei warteten die meisten Menschen insgeheim darauf, ihre Geschichte erzählen zu dürfen – man musste sie nur richtig anpacken. Er sprach einen jungen Mann mit Kinnbart an, den er eher in einem Hipster-Café als auf einem Schießstand erwartete hätte und der allein deshalb eine Geschichte versprach.
»Ich studiere Politikwissenschaften und Geschichte und beschäftige mich seit Langem mit der Region. Ich bin so froh, endlich vor Ort zu sein und alles mit eigenen Augen zu sehen, nachdem ich Tausende Seiten darüber gelesen habe.«
»Wie lange bleibst du in Thikro?«
»Zwei Wochen. Es sind gerade Semesterferien, und das Leben hier ist ja wirklich billig.«
»Warum bist du heute an den Schießstand gekommen?«
»Wir betrachten Konflikte immer aus einem sehr akademischen Blickwinkel, immer vom Schreibtisch aus. Das verfälscht die Realität. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, das zu ändern.«
»Was meinst du damit?«
»Ich wollte wissen, wie sich eine Waffe in der Hand anfühlt. Wie es ist, auf den Feind loszurennen. Den Tod vor Augen zu haben. Und dabei wirklich meinen Schweiß zu spüren, meine Angst, meine Erschöpfung, meine schmerzenden Muskeln. Das muss ich doch mal erlebt haben, wenn ich über den Krieg schreibe, ich muss doch wissen, wovon ich spreche.«
Vincent fragte sich, wie authentisch es war, mit einem Gewehr auf eine Strohpuppe zu schießen, die keinerlei Gegenangriff erwarten ließ. Er wagte gar nicht erst, zu Milo hinüberzusehen, der neben ihm herging und das Gespräch mitanhören musste.
»Also gefällt es dir?«
»Sehr. Die Leute hier machen eine wichtige Arbeit.«
Im überdachten Schießstand bekamen sie eine P30 von Heckler & Koch in