Getriebene. Armin Wühle

Getriebene - Armin Wühle


Скачать книгу
die Hand des Alten, küsste den Handrücken und drückte ihn sich an die Stirn. Bereits im Umdrehen schrie er den wenigen Passanten wieder seine Preise entgegen und zog sich in seinen Laden zurück, in dem er neben Wasserpfeifen, Tabak und Alkohol auch Kriegs-Memorabilien verkaufte: Medaillen, Wimpel, Karten mit Frontverläufen, leere Patronenhülsen und Postkarten, auf denen halbnackte Frauen ihre Beine um eine Granate schlangen. Einem seiner Nachbarn hätte er nicht geholfen – Männer mit ebenso wuchtigen Armbanduhren, die ähnliche Läden betrieben und sich vor den Touristen gegenseitig schlechtredeten.

      Der Gemüsehändler schob indes seinen Wagen an den Straßenrand und richtete die Auslage. Ein über den Karren gespanntes Tuch, das in den Jahren seine Farbe verloren hatte, schützte Obst und Gemüse vor der Sonne. Aus einem der Büsche, die vor der Mauer wuchsen, zog der Mann einen Plastikstuhl. Er klopfte ihn vom Sand frei und setzte sich damit hinter den Karren.

      Vincent klappte seinen Laptop auf. Er bereitete das Gespräch mit Chris Varga vor, das er in wenigen Tagen führen würde. Die meisten Bilder, die von dem Geschäftsmann existierten, zeigten ihn bei Spatenstichen in Thikro. Vincent näherte sich dem Bildschirm, bis sich Vargas glatzköpfiges Gesicht in einzelne Pixel auflöste. Der Gönner, hatte ein britisches Magazin getitelt und sich über sein arrogantes Gehabe ausgelassen, seine Investments jedoch als konkrete Hilfestellung für das kriegsgeschundene Thikro gelobt. Sein Vermögen beruhte auf Immobiliengeschäften sowie einer Leichtmetallfabrik, die er als junger Mann gegründet hatte. Die Details seines Reichtums blieben ebenso im Dunkeln wie seine Zeit im britischen Exil. Varga schien es erst zu geben, seit er als sechsundfünfzigjähriger, millionenschwerer Geschäftsmann in seine zerstörte Heimatstadt zurückgekehrt war, um sie wiederaufzubauen. Das war zumindest die Geschichte, die über ihn erzählt wurde, und die Leerstelle dahinter war das, was Vincent interessierte.

      Er kämmte das Internet nach dieser Lücke durch und ergänzte seine Unterlagen. Bis zum Nachmittag saß er in dem Café und bestellte in höflichem Rhythmus Kaffee. Immer wieder blickte er zu dem Gemüsehändler hinüber. Der Mann wanderte mit dem Lauf der Sonne und rückte seinen Stuhl in den Schatten des Tuches. Ob er begriff, wie sich die Welt um ihn herum verändert hatte? Nur wenige Passanten hielten an, um etwas zu kaufen. Eine Gruppe speckiger Kerle kaufte ihm eine Melone ab. Daraus ließ sich Wodka-Melone machen.

      Der Dolmetscher hatte für das Treffen ein Café am Stadtrand vorgeschlagen. Eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit stand Vincent davor und atmete die Abgase ein, die ihm von der vielbefahrenen Straße entgegenwehten. Regelmäßig fuhren Taxis im Schritttempo an ihm vorbei und hupten, Vincent schickte sie mit einer Handbewegung weiter. Nur wenige Touristen verirrten sich in diesen Teil der Stadt. Die Schaufenster der Geschäfte waren verbarrikadiert. Ihre Fassaden wiesen Einschusslöcher auf, von denen nur wenige gespachtelt worden waren. Der graue Putz hing wie Wunden an den Häusern.

      Vincent setzte sich auf den Bordstein und beobachtete das Treiben, bis er Milo, seinen Dolmetscher, entdeckte. Er war auffallend klein und trug trotz der Hitze eine gefütterte Weste. Er kam von der anderen Straßenseite hinübergerannt und begrüßte Vincent mit festem Händedruck.

      »Wartest du schon lange?«

      »Nein, alles gut. Gibt es einen Grund, warum wir uns hier treffen?«

      »Damit du etwas anderes siehst als den Boulevard. Es ist schrecklich da oben.«

      Hier ist es nicht viel besser, dachte Vincent, sagte aber nichts. Ihm fiel auf, dass Milo deutlich jünger war, als es am Bildschirm den Eindruck gemacht hatte. Den Vollbart ließ er sich wohl stehen, um sein jugendliches Aussehen zu kaschieren.

      »Wollen wir rein?«, fragte Milo und ging bereits voraus. Das Café war größer, als es von außen den Anschein hatte, und schlecht ausgeleuchtet. Nur Einheimische saßen an den Tischen. Milo begrüßte den Kellner mit Handschlag und Küssen auf die Wange und wechselte einige Worte mit ihm. Der Kellner warf Vincent mehrere kurze Blicke zu.

      »Ich habe ihm erzählt, dass du Journalist bist und einige Wochen in der Stadt bleibst«, erklärte Milo. Der Kellner streckte nun auch ihm die Hand hin, aber die Skepsis war ihm ins Gesicht geschrieben. Milo führte Vincent in eine Zwischenetage hinauf, wo sie ungestört reden konnten. Vincent hatte sich noch nicht daran gewöhnt, Aschenbecher auf den Tischen vorzufinden, aber nahm das Angebot gerne an.

      »Du bist vor zwei Tagen angekommen?«, fragte Milo.

      »Genau. Ich habe nicht viel gemacht, außer mich umzusehen und an die Hitze zu gewöhnen. Ich habe einen Anruf von meinem Fotografen bekommen, es war nicht sicher, ob er’s schafft, aber jetzt reist er Mittwoch an. Die Dinge kommen ins Rollen.«

      Der Kellner brachte eine Teekanne und verteilte die Gläser. Er schenkte zuerst Milo ein, dann hob er die Kanne in die Höhe und ließ kunstvoll einen dünnen Strahl in Vincents Teeglas schießen, ohne dass ein Spritzer verlorenging. Durch die Fallhöhe schäumte der Tee auf. Vincent dankte und folgte ihm mit Blicken die Treppe hinunter.

      »Macht er das, weil ich Ausländer bin oder weil ich Journalist bin?«

      »Beides. Mit einem Hauch von Ironie, falls es dir entgangen ist.«

      Es war ihm nicht entgangen. Vincent nahm einen Schluck vom Tee.

      »Bist du schon mit Leuten ins Gespräch gekommen?«, fragte Milo.

      Er zögerte, ihm von Sam zu erzählen. Sein eigentlich privater Besuch dort kam ihm unprofessionell vor, doch sein Interesse an Milos Meinung überwog.

      »Gestern Abend bin ich einem Ticker gefolgt. Ich weiß, wie leicht man in Thikro an Drogen kommt, die Stadt ist bekannt dafür, gerade unter den Touristen. Also bin ich einem der Männer gefolgt und er hat mich in den Hinterhof einer Wohnanlage gebracht. Da war ein großer Tisch aufgebaut und der Ticker, Sam, hat seelenruhig sein Zeug verkauft. Er meinte, es gebe in der Stadt einen Ehrenkodex, sich nicht gegenseitig ans Messer zu liefern. Sogar die Polizei würde sich daran halten. Eine Schicksalsgemeinschaft, die sich ein wenig Gerechtigkeit zurückholt.«

      Milo lächelte. »Das ist Sozialromantik, nichts weiter. Vor der Polizei muss er tatsächlich keine Angst haben, aber das hat andere Gründe. Die Stadt ist auf den Drogenhandel angewiesen. Noch nie ist so viel Kapital in diese Gegend geflossen, nicht in all den Jahren vor dem Krieg. Behörden und Lokalpolitik haben kein Interesse, dem ein Ende zu setzen. Und selbst wenn, hätten beide nicht halb so viel Macht wie die SU-Miliz.«

      »Und die Miliz steckt mit drin im Handel?«

      »Deren Geschäftsmodell basiert auf Drogen. Das ist ein offenes Geheimnis.«

      Vincent hob die Augenbrauen. »Interessantes Geschäftsmodell für eine Organisation, die den Grenzschutz der Union koordiniert.«

      »Die Union ist weit weg, Vincent. Die interessiert sich nur dafür, dass es niemand über die Grenze schafft.«

      »Vielleicht sollte ich Sam um ein Interview bitten. Weißt du, was mich am meisten überrascht hat? Wie bereitwillig er von seiner Arbeit erzählt hat. Er hat mir das Gespräch regelrecht aufgedrückt. Er hat mir auch Bilder gezeigt, von den dicken Autos, die er fährt, und von seinen Plantagen.«

      »Diese Leute sind stolz auf ihren Erfolg. Die haben eine Ölquelle gefunden, die so schnell nicht versiegt. Sie müssen nichts verbergen, im Gegenteil: Sie protzen mit ihrem Geld und ihren Kontakten zu wichtigen Männern. Und dann kommt irgendein Ausländer dahergelaufen – no offense, Vincent – und natürlich erzählen sie dir alles, weil sie das Gefühl haben, endlich auf Augenhöhe mit dir zu sein. Wir laufen alle mit Minderwertigkeitskomplexen herum, weil wir in euren Geschichten nur als Kameltreiber und Teeschänke und Opfer eines Krieges vorkommen. Schade nur, dass dir ein Typ vor die Füße läuft, der seine Drogendeals für sozialen Aufstieg hält.«

      Milo richtete einen Finger auf den Mann hinter dem Tresen.

      »Unser Kellner hier, der hat einen Abschluss als Bauingenieur. Die Leute hier sind gut ausgebildet, aber sie finden keine Jobs. Alle kämpfen um die wenigen gut bezahlten Stellen, aber die bekommst du nur, wenn du Kontakte hast oder in der richtigen Partei bist. Also gehst du weg, ins Kernland der Union oder nach Europa, wo du zwar einen Job findest,


Скачать книгу