Getriebene. Armin Wühle

Getriebene - Armin Wühle


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Schutzschilde missbrauchten, jede Familie habe Tote zu beklagen, aber das sei für die Geschichtsbücher. Ihre Zeit sei gekommen, ein bisschen was vom Glück abzuhaben, die Stadt blicke nun in die Zukunft.

      »Ich gebe dir noch was mit. Ein Geschenk, zum Ausprobieren.«

      Er streckte ihm ein Tütchen hin mit einer einzigen blassgelben Tablette.

      »Wenn du mal Party machen möchtest. Hält dich wach, macht dich stark und euphorisch. Wie Hulk. Auch untenrum ist mehr los. Keine Sorge, du läufst nicht automatisch mit einem Ständer rum, aber wenn du’s treibst, kannst du länger und öfter.«

      Vincent dankte und steckte das Teilchen ein. Sie gaben sich die Hand und Sam hielt den Handschlag aufrecht. Er blickte Vincent in die Augen, als spreche er zu seinem zukünftigen Schwiegersohn. »Wenn du etwas willst, das ich nicht habe, sagst du es mir, ja? Dann besorge ich es.« Vincent nickte. »Klopf das nächste Mal am Tor und frag nach Sam, dann macht dir jemand auf. Mach’s gut, mein Freund.«

      Sam zog die Hand zurück und legte sie sich auf die Brust. Vincent tat es ihm gleich und verließ den Innenhof.

      Die Straßen waren voller geworden. Er wich einem Junggesellenabschied aus, bei dem man den Bräutigam in ein pinkes Tutu gesteckt hatte, und bog auf den Boulevard. Vincent schob die Hände in die Taschen und spazierte die Mauer entlang, die in orangefarbenes Scheinwerferlicht getaucht war. Das Gefühl, ein Ausgestoßener zu sein, verschwand nicht. Die anderen waren ihm fremd, aber ihre Geschlossenheit machte ihn eifersüchtig. Vincent fragte sich, was er mit dem Abend anfangen sollte, und ließ sich zu einer Bar navigieren, die er online entdeckt hatte. The Garden erhielt in den Reiseforen wenige, aber durchweg positive Bewertungen. Die Bar hatte schon vor dem Krieg existiert. Ein User beschrieb sie als Oase in der Stadt der Idioten, und Vincent war ihr verfallen, ohne sie betreten zu haben.

      Die Bar lag am anderen Ende der Stadt, wo die Straßen breiter und die Grundstücke großzügiger wurden. Wie von einem Asthma befreit schien die Stadt erstmals zu atmen. The Garden lag in einem Hinterhof, in dem der Geruch von Marihuana wie eine Dunstglocke zwischen den Bäumen hing. Sessel und Sofas gruppierten sich um niedrige, aus Paletten gezimmerte Tische. Vincent ließ sich nieder und notierte sich Details aus dem Gespräch mit Sam, bevor er sie vergaß.

      Er packte sein Gras aus und drehte es in Ermangelung eines langen Zigarettenpapiers in ein kurzes. Die Bar war angenehm voll, aber nicht überfüllt. Katzen strichen um die Füße der Gäste und bettelten um Essensreste. Er beobachtete ein Pärchen, das zu zweit in einer Hängematte lag und regelmäßig einen Arm herausstreckte, um sich vom Boden abzustoßen. Er war in die Stadt gegangen, um sich weniger einsam zu fühlen und hatte das genaue Gegenteil erreicht. Um ihn herum saßen hippe Mittzwanziger, die sich in Fremdsprachen unterhielten und regelmäßig in Gelächter ausbrachen. Vincent war der einzige, der alleine an einem Tisch saß. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Héctor in wenigen Tagen kam. Gemeinsam würden sie all den Spaß haben, den seine Mitmenschen gerade hatten.

      Er nahm den fertig gerollten Joint auf, gab sich Feuer und ließ langsam den Rauch aus seinem Mund steigen. Das Gras war stark und gut. Er lehnte sich zurück und beobachtete zwei junge Frauen, die am Nachbartisch saßen. Er schätzte sie auf neunzehn oder zwanzig. Unter einem Vorwand sprach Vincent die beiden an und setzte sich zu ihnen. Die eine trug Federschmuck im Haar, die andere fiel durch ihre anorektischen Handgelenke und eine senkrechte Körperhaltung auf, die auf frühe Ballettstunden hindeuteten. Ihre Namen hatte Vincent bereits vergessen, als er ihre Hände losließ. Sicherlich belächelten sie die untersetzten und sonnenverbrannten Touristen, die Fotos mit den Söldnern schossen, und kamen sich selbst ganz anders vor. Er bot ihnen den Joint, den sie dankend annahmen.

      Die beiden waren am Vortag in Thikro gelandet. Sie erzählten ihm von einer Partyreihe, die in wechselnden Bauruinen der Stadt veranstaltet wurde. Nebelmaschinen und Laser setzten die Ruinen aufwendig in Szene. Vincent reichte das Handy zurück, auf dem sie ihm entsprechende Bilder gezeigt hatten. Er fragte sie, ob es nicht ein merkwürdiges Gefühl sei, an solchen Orten feiern zu gehen, zumal wenige Kilometer weiter noch immer ein Krieg tobte. Die Balletttänzerin schüttelte den Kopf. Die Leute würden sich durchaus Gedanken zu diesen Fragen machen, genau deswegen seien sie ja hier. Sie hätten auch nach Barcelona oder Ibiza fliegen können, aber wem wäre damit geholfen? Die Leute hier konnten das Geld gut gebrauchen. Wer in Thikro einen Abend feiern gehe, habe für diese Region mehr geleistet als alle, die jetzt betroffen zu Hause säßen. Diese Antwort schien Vincent gar nicht so dumm, zumindest reflektierter, als er erwartet hätte. Er nahm den Joint auf, der zu ihm zurückgewandert war.

      »Bist du alleine hier?«, fragte die mit dem Federschmuck.

      »Ich bin zum Arbeiten in Thikro. Ich bin Journalist.«

      In jahrelanger Praxis hatte sich Vincent die Worte zurechtgelegt, mit denen er von seiner Arbeit erzählte. Er glaubte, selbst nicht sonderlich interessant zu sein, aber sein Beruf war es zweifellos. Er erzählte von seiner Recherchereise nach Abuja und die beiden schienen durchaus beeindruckt.

      »Wie ist denn die Lage in Abuja?«, fragte die Balletttänzerin und lieferte ihm damit eine Steilvorlage. Vincent griff wie beiläufig nach seiner Bierflasche und fällte eine differenzierte, aber durchweg düstere Prognose über die Entwicklung der Region. Er gab sich betont abgeklärt, denn abgeklärt konnte nur sein, wer viel gesehen hatte. Er wählte einfache Beispiele, die im Kleinen die großen Zusammenhänge erklärten, und unterstrich sie mit Details, die nur Ortskundigen bekannt sein konnten. Vincents Wissen wurde selten von seinen Gesprächspartnern geprüft, da kaum jemand über diesen Teil der Welt nachdachte, und so stand sein Urteil stellvertretend für die Realität. Er ging noch auf ein oder zwei Nachfragen ein, bevor er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und das Thema wechselte. Er hatte Ahnung von Dramaturgie und wusste, wann die Klimax einer Geschichte erreicht war. Er ließ die Aura des Exotischen über sich leuchten und stellte zufrieden fest, dass die Musik aufgedreht wurde. Gespräche verstummten oder wurden in doppelter Lautstärke geführt. Vincent nutzte die Gelegenheit, um näher an die Balletttänzerin zu rücken und beim Sprechen sanft ihre Schulter zu berühren. Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu, den diese fast unmerklich abnickte, und klatschte sich auf den Oberschenkel.

      »Wir müssen jetzt weiter«, sagte sie und nahm ihren Longdrink in die Hand. »Schönen Abend noch.«

      Vincent hob einen Finger zum Abschied und sah den beiden hinterher. Sie waren schneller verschwunden, als sich sein ohnehin ramponiertes Ego eingestehen mochte. Er blieb noch eine Weile sitzen, als genieße er es, alleine unter den vielen Menschen zu sein, und beglich dann seine Rechnung.

      5

      Es war acht Uhr am Morgen und die Flaniermeile ausgestorben. Einige junge Leute, die die Nacht durchgemacht hatten, torkelten über die Straße oder saßen in den Frühstücksbars, redeten und lachten zu laut und tilgten ihren Heißhunger. Daneben saßen Rentnergruppen in kurzen Hosen, die ihre Glatzen mit Cappies bedeckt hatten. Vincent lief an ihnen vorbei und suchte nach einem ruhigen Plätzchen, an dem er arbeiten konnte. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen. Wirre, schuldbeladene Träume hatten ihn gequält und seit dem Morgengrauen wach gehalten. Wenigstens, so dachte er, blieb ihm jetzt mehr Zeit zum Arbeiten.

      Vincent ließ sich in einem der Cafés nieder und bat den Kellner um das Passwort fürs Internet. Mit der Mauer im Hintergrund schoss er ein Selfie, das er in seine sozialen Netzwerke speiste. Er wartete ab, bis die ersten Daumen gereckt wurden, dann steckte er sein Handy weg. Er zupfte ein Stück von seinem Croissant und blickte über den Boulevard. Die Bauarbeiten schienen nachlässig und mit großer Eile vonstattengegangen zu sein. Der Asphalt war nicht abgesenkt, und wer den Seitenstraßen folgte, die von der Mauer weg und hinunter in die Altstadt führten, geriet leicht ins Stolpern. Vincent beobachtete einen alten Gemüsehändler, der seinen Holzkarren heranrollte. Der Mann musste den Verkäufer eines Souvenirgeschäfts bitten, seinen Wagen über die steinerne Wulst zu heben. Es war dem Verkäufer anzusehen, dass er Besseres zu tun hatte, aber er schien sich dem Alter verpflichtet. Vielleicht schwang auch Mitleid für den alten Mann mit, der seine eigenen Geschäfte nicht gefährdete. Der Verkäufer rief ins Innere seines Ladens, und ein Junge kam heraus. Gemeinsam hoben sie den Karren an und zogen das Vorderrad


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