Getriebene. Armin Wühle

Getriebene - Armin Wühle


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ihren Familien, die aus anderen Regionen vertrieben worden waren, wurden mit Bussen nach Amgar gebracht, und die Stadt entwickelte sich schnell zu ihrem größten Stützpunkt. Erstmals rückte der Krieg in die Nähe einer zwanzigminütigen Autofahrt.

      Indes hatte die benachbarte Union ein Auge auf Thikro geworfen. Die Union war durch finanzielle und militärische Unterstützung einzelner Gruppen selbst zur Kriegspartei geworden. Im Zuge der sich rapide verschiebenden Grenzen gelang es der Union, ihren Einflussbereich zu erweitern. Mit diplomatischem Geschick (und etwas Korruption) brachten sie die kommunalen Vertreter Thikros dazu, die Aufnahme in ihren Staatenbund zu beantragen. Ein eilig abgehaltener Volksentscheid, der mit nordkoreanischer Deutlichkeit zu einem Ergebnis kam, gab dem Ganzen einen demokratischen Anstrich. Obwohl die Meinungen in der Bevölkerung durchaus differenzierter waren, als das Wahlergebnis vermuten ließ, musste man den Wählern nicht sonderlich auf die Sprünge helfen. Viele versprachen sich von der Eingliederung in die Union einen wirtschaftlichen Aufschwung sowie militärische Stabilität angesichts eines Krisenherdes, der vor ihrer Haustür loderte.

      Die Wahl wurde als großes Fest inszeniert. Wimpel in den Farben der Union schmückten die Straßen, schon bevor das Wahlergebnis feststand. Musikgruppen spielten, Essensbuden und Fahrgeschäfte für Kinder wurden aufgebaut. Dass die Union Gruppen unterstützte, die zu den größten Feinden der Amgar-Rebellen zählten, bereitete nicht Wenigen Sorge, aber das Rad der Geschichte drehte sich bereits und war nicht mehr aufzuhalten. Das Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Thikro wurde zum Territorium der Union erklärt und zwei Tage später von den Rebellen angegriffen.

      Die ersten Toten waren Bauern, die ihre Felder vor den anrückenden Geländewagen verteidigten. Rebellen zogen in die Stadt, errichteten Barrikaden an allen Ausfallstraßen und verteidigten sie gegen die Union. Zeitgleich kontrollierten die Rebellen wahllos Passanten und befragten sie nach ihrer Wahlentscheidung. Je nachdem, wie plausibel sie ihre Ablehnung gegenüber der Union ausdrückten, wurden sie am Leben gelassen oder erschossen. Einige der Rebellen trugen Aktenordner bei sich. Darin hatten sie Bildmaterial gesammelt, das Fernsehbeiträgen entnommen war und Bürger zeigte, die sich am Wahltag positiv über die Union geäußert hatten. Diejenigen, die sie am Leben ließen, wurden nach den Adressen der abgebildeten Personen befragt. In einer Stadt wie Thikro, in der jeder jeden kannte, war dies ein klarer Beweis der soeben behaupteten Loyalität. Die ersten Lokalpolitiker, die für die Wahl verantwortlich gewesen waren, wurden auf die Straße getrieben. Man kappte die Wimpelketten, die noch zwischen den Häusern hingen, und strangulierte sie damit. Die Ermordungen und Verhaftungen dauerten bis in den späten Abend. Über siebzig Personen wurden in eine Turnhalle gebracht, in der die Rebellen ihre Gefangenen festsetzten. Vincent hatte in der Times den Bericht des einzigen Überlebenden gelesen. Er beschrieb die verbrauchte und säuerliche Luft in der Halle; die geflüsterten Gebete; den panischen Blick gefangenen Schlachtviehs. Gegen Mitternacht schlossen zwei Rebellen die Türen auf und traten ein. Sie schossen die Magazine ihrer Maschinengewehre leer, bevor sie Handgranaten ins Innere warfen und die Halle zum Einsturz brachten.

      Mit dem Überfall aus Amgar hatte die Union nicht gerechnet. Sie hatte die Rebellen für zu schwach und zu beschäftigt mit dem Aufbau ihrer Strukturen gehalten, um einen Angriff derartiger Größenordnung durchzuführen. Am Tag des Überfalls waren nur wenige Unionssoldaten in der Stadt stationiert, und der Nachschub traf erst ein, als das Stadtgebiet Thikros schon eingenommen war. Die Union errichtete einen Belagerungsring, um ein weiteres Vordringen der Rebellen in ihr Territorium zu unterbinden. Ein schmales Zeitfenster, das zwischen der Einnahme und der Belagerung lag und nur wenige Stunden andauerte, reichte ein paar hundert Bewohnern zur Flucht. Der Rest blieb für die nächsten vierzehn Monate eingesperrt, Gefangene von innen wie von außen.

      Auf Tage der Schockstarre, die die Bewohner Thikros in ihren Wohnungen verbrachten und nur für das Lebensnotwendige verließen, kehrte der Alltag zurück. Schulen und Geschäfte wurden geöffnet, der Busverkehr nahm seinen Betrieb auf. Nach der ersten Gewaltspirale wurden die Rebellen zu kalkulierbaren Gefängniswärtern, die den Bewohnern Thikros innerhalb eng gesteckter Grenzen – und unter der Voraussetzung absoluter Loyalität – ihren Freiraum ließen. Auf Tage der vermeintlichen Ruhe folgten regelmäßige Schusswechsel mit der Union. Diese gab sich nicht damit zufrieden, die Stadt den Rebellen zu überlassen. Sie hatte Thikro von allen Seiten eingekesselt, bis auf den schmalen Durchlass zwischen den Bergen, der ihren Feinden jederzeit den Rückzug ins Rebellengebiet garantierte. Die Union verfolgte eine Strategie der ausdauernden Zermürbung, die im gleichen Maße Besatzer wie Zivilisten traf. Durch den Belagerungsring kontrollierte sie den Warenverkehr und steigerte langsam den Druck, indem sie Wasser, Strom, Heizöl und Lebensmittel rationierte oder kappte. Die Versorgung über Amgar war ungleich komplizierter und kaum billiger als Schmugglerware. Die Einwohner Thikros, die weder der Union noch den Rebellen sonderlich zugetan waren, wurden zwischen den Fronten zerrieben.

      Der Union lag vornehmlich an der strategischen Bedeutung der Stadt, weshalb sie Kollateralschäden in Kauf nahm. Während sie öffentlichkeitswirksam Hilfspakete in die belagerte Stadt schickte, sandte sie wenige Tage später Schützenfeuer hinterher. Rebellen und Union beschuldigten sich gegenseitig, für die wachsende Zahl an Toten verantwortlich zu sein. Der Beschuss eines Wochenmarktes, bei dem dreiunddreißig Zivilisten starben, sorgte für weltweites Aufsehen. Die Belagerung dauerte da bereits sieben Monate an. Die Rebellen machten die Union für den Beschuss des offensichtlich zivilen Ziels verantwortlich. Die Union warf den Rebellen eine False-Flag-Aktion vor. Einer unabhängigen Untersuchungskommission wurde seitens der Union der Zutritt verwehrt, mit Verweis auf die Sicherheitslage. Die Rebellen sahen dies als Beweis, dass die Union ihre eigene Verantwortung vertuschen wollte und versprachen den internationalen Beobachtern Geleitschutz. Beide Seiten hielten Pressekonferenzen ab, in denen sie Beweise für ihre Sicht der Dinge präsentierten: verwackelte Handyaufnahmen, Satellitenbilder, Zeugenaussagen und Patronenhülsen. Die Kommission nahm nie ihre Arbeit auf, und die Frage, wer für den Beschuss des Wochenmarkts verantwortlich war, geriet zur Fußnote inmitten eines Flächenbrands, in dem Thikro nur das jüngst brennende Scheit war.

      Die Belagerung endete schließlich so abrupt, wie sie begonnen hatte. Gerüchte über einen Abzug der Rebellen gab es seit Monaten, bewahrheitet hatten sie sich nie. Erst wenige Tage zuvor waren Aufstände der Bewohner blutig niedergestreckt worden, mit einer Entschlossenheit, die keinen Zweifel daran ließ, dass die Rebellen die Stadt bis zuletzt halten wollten. Selbst einige Kollaborateure hatten von dem Abzug nichts gewusst und wurden von den Truppen der Union, die im Morgengrauen die Stadt übernahmen, festgenommen. Der sterbenden Stadt, in der ein geschmuggeltes Stück Brot zuletzt einen halben Monatslohn kostete, wurde der Abzug der Rebellen über Lautsprecher mitgeteilt. Die SU-Miliz, die bereits in anderen Gefahrengebieten für die Union arbeitete, wurde mit dem Mauerbau an der Demarkationslinie beauftragt. Das Flüchtlingshilfswerk und verschiedene NGOs nahmen ihre Arbeit auf und der Lichtkegel medialer Aufmerksamkeit wandte sich ab. Über zweitausendsechshundert Menschen waren durch Schusswechsel, Bombardements, an Mangelernährung oder unzureichender medizinischer Versorgung gestorben. Die verbliebenen Bewohner, gelockt vom aufklarenden Himmel, traten vor die Tür und fanden eine zerstörte Stadt vor.

      Das war die Geschichte Thikros, und Vincent kannte sie gut. Er hatte sie damals live verfolgt, in den Nachrichtensendungen und Feeds seiner abonnierten Kanäle, und er hatte seinen Kenntnisstand vor der Reise mit einer vierstündigen BBC-Dokumentation aufgefrischt. Vincent kannte sich aus und war gerade deswegen so gespannt, wie das Kriegsmuseum der SU-Miliz die Geschichte darstellen würde. Wer die Aussichtsplattform besuchen wollte, musste sich zuvor an den zahlreichen Schautafeln vorbeiführen lassen. Einem Teil der zwanzigköpfigen Gruppe, der Vincent zugeteilt worden war, war anzusehen, dass sie in ihrem Urlaub – und auch sonst – keinen Wert darauf legten, ein Museum zu besuchen. Sie ließen die Kopfhörer ihres Audio-Guides um die Finger kreisen und warteten nur darauf, endlich einen Blick auf die andere Seite werfen zu können. Der weitaus größere Teil der Gruppe zeigte sich jedoch interessiert. Sie stellten dem Söldner, der sie im Kampfanzug durch das Museum führte, dutzende Fragen und hingen an seinen Lippen, wenn er von den Kämpfen der Unionstruppen erzählte, als sei er selbst dabei gewesen. Vor Beginn der Führung hatte sich Vincent bei ihm vorgestellt.

      »Ist lange her, dass ich einem Journalisten begegnet bin«, hatte der Söldner gesagt und ihm die Hand geschüttelt. Er


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