Getriebene. Armin Wühle
ihm den Ellbogen in die Rippen. Milo stellte die Frage und die Alte hörte aufmerksam zu. Ihre Antwort brachte die Einheimischen wieder zum Lachen. Milo übersetzte: »Wenn du so fragst, den anderen.«
Als sie das Haus der Alten erreicht hatten, küsste Josua ihren Handrücken und drückte ihn an die Stirn. Alle im Wagen taten es ihm gleich. Sie bogen zurück auf die Straße, die sich immer steiler die Berge hinaufwand, und waren schon bald von dichten Wäldern umgeben. Auf einer gekiesten Fläche mitten im Nirgendwo kamen sie zum Stehen. Über zwanzig Wagen parkten dort bereits.
»Wir haben eine Stunde, dann bringt er uns zurück nach Thikro.«
Es duftete schwer nach Piniennadeln, als sie aus dem Wagen stiegen, und Milo führte sie auf einen Trampelpfad. Durch die Höhenlage und die schattenspendenden Bäume war das Klima angenehmer als unten im Tal. Nach dem Rattern der Maschinengewehre waren die Vogelsänge eine wahre Entspannung, und sie sprachen kaum ein Wort miteinander. Mit einer letzten Kletterpartie, bei der heraustretendes Wurzelwerk als Stufen diente, erreichten sie einen kreisrunden See. Ein dünner Wasserfall ergoss sich darin. In dem Becken, nicht größer als zehn mal zehn Meter, tummelten sich dutzende Menschen. Es war so voll, dass die Badenden ihre Arme nicht hätten ausstrecken können, ohne einander zu berühren. Sie schwammen nicht, sondern tauchten nur unter oder schöpften Wasser mit ihren Händen, das sie sich über die Köpfe gossen. Vincent war von der Schönheit des Ortes berührt und empfand die Menschenmassen gleichermaßen als surreal – es sah aus, als stünden sie in einem Kochtopf. Héctor schien ähnliche Assoziationen zu haben, jedenfalls holte er seine Kamera hervor und entfernte sich wortlos.
»Hast du Hunger?«, fragte Milo und führte ihn zu einem Bretterschlag zwischen den Bäumen. Dort saß eine Frau vor gewölbten Stahlschalen, unter denen ein Feuer brannte und auf deren Oberflächen sie dünne Fladenbrote buk. Während Milo bestellte, wandte sich Vincent wieder dem Becken zu. Das menschliche Suppengrün bewegte sich in konzentrischen Kreisen, als würde es langsam gerührt. Bisweilen verließ eines den Kreis und stakste tropfend das Ufer hinauf.
Milo drückte ihm drei Dosen Fanta in die Hand, und sie setzten sich auf einen flachen Stein ans Wasser. Sie entdeckten Héctor auf der anderen Seite, halb verborgen zwischen Bäumen und Familien, die dort auf Picknickdecken saßen. Héctor und er waren die einzigen Ausländer.
Milo faltete das ölige Papier auseinander und riss die Fladenbrote in dampfende Stücke. Er leckte seine Fingerkuppen ab und nahm einen Anruf entgegen, der sich vibrierend in seiner Westentasche bemerkbar gemacht hatte. Mit dem wachsenden Respekt, den Vincent ihm gegenüber empfand, lauschte er den fremdartigen Klängen von Milos Muttersprache. Dieser beendete das Gespräch und schob das Handy in seine Westentasche zurück.
»Wie kommt es, dass du so gut Englisch sprichst?«, fragte Vincent.
»Filme und Bücher, und ein gewisses Sprachtalent, nehme ich an.«
»Keine Auslandsaufenthalte?«
»Ich habe mein ganzes Leben in Thikro verbracht.«
Ob darin Stolz oder Bedauern mitschwang, konnte Vincent schwer sagen. Milo stupste ihn mit der Schulter an.
»Na, bist du zufrieden mit deinen Interviews?«, fragte er.
»Sehr zufrieden. Ich dachte, auf den Schießständen wären nur Proleten unterwegs, stattdessen habe ich mit klugen, reflektierten Menschen gesprochen. Moralisch fragwürdig, aber nicht dumm. Es ist immer gut, von den eigenen Recherchen überrascht zu werden.«
Milo lachte. »Wenn wir von unseren Recherchen nicht überrascht werden, sollten wir den Job wechseln. Sonst machen wir ja keinen Journalismus mehr, sondern schreiben entlang unserer Vorurteile.«
»Machen wir das nicht alle ein Stück weit?«
»Umso stärker müssen wir dagegen ankämpfen.«
Vincent fand das ein wenig naiv, und er erinnerte sich daran, wie jung Milo noch war. Er hatte kein Interesse, seinen Idealismus auseinanderzunehmen und schob sich stattdessen eines der Brotstücke in den Mund. Sie waren mit Schafskäse und Spinat gefüllt und schmeckten ausgezeichnet.
»Ich gehe morgen auf die Party einer Amerikanerin, für die ich arbeite«, sagte Milo. »Die gesamte Expat-Gemeinde der Stadt wird versammelt sein, Entwicklungshelfer, Menschenrechtler, Wissenschaftler … falls du noch Kontakte brauchst.«
»Sehr gerne«, sagte Vincent und notierte sich den Termin in seinem Kalender. »Diese Freundin, von der du erzählt hast, Cora. Ist sie auch dabei?«
»Ich kann sie fragen.«
Héctor setzte sich zu ihnen und präsentierte seine Aufnahmen. Vincent gab ihm das Lob, das er hören wollte, und tat sich nicht schwer damit – es waren wirklich großartige Bilder. Sie tauchten die Füße ins Wasser und streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen. Der Krieg, die hechelnde Gier der Stadt waren weit weg. Sie saßen beisammen, bis einige Meter entfernt Josua ans Ufer trat. Sie zogen sich die Strümpfe über die nassen Füße und folgten ihm zurück zum Parkplatz.
9
Die Adresse in seinem Notizbuch führte ihn zu einem unauffälligen Bürogebäude. Der Vorgarten war von einem Zaun eingefasst, dessen metallene Spitzen keinen Zweifel daran ließen, wie mit ungebetenem Besuch verfahren wurde. Vincent klingelte und gab der Gegensprechanlage durch, dass er einen Termin mit Mister Varga habe. Er drückte das surrende Tor auf und strich den Kragen seines Hemds glatt, das er heute Morgen aus der Reinigung geholt hatte.
Eine Empfangsdame glich den Namen mit einer bestehenden Liste ab, dann löste sie die Sicherheitskette und bat ihn herein. Er wurde in einen Wartebereich geführt, dessen Boden mit Marmor ausgelegt und dessen Wände mit abstrakter Kunst behangen waren. Vincent setzte sich und spürte eine leichte Nervosität aufsteigen. Er blätterte seine Notizen durch, bis sich eine Tür öffnete und Varga auf den Flur trat. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug und mehrere Ringe an den Fingern. Das schüttere Kopfhaar hatte er zurückgekämmt. Er entsprach überraschend genau den Aufnahmen, die im Internet von ihm kursierten. Ein Geruch von Rosenwasser und Pomade ging von ihm aus.
»Schön, Sie zu treffen, Mister Varga.«
»Gleichfalls. Ich hoffe, Sie sind in einem meiner Hotels untergekommen?«
Vincent verneinte. Er stellte sich und seine Redaktion vor und verlor ein paar positive Worte über das aufstrebende Thikro, die Varga schmeicheln sollten. Dieser folgte Vincents Ausführungen mit sichtbarem Desinteresse. Immer wieder schielte er auf eine Tür hinter dem Empfang, bis ein junger Mann im Nadelstreifenanzug dort herauskam und zu ihnen trat. Es war Vargas Pressesprecher. Obwohl Varga passables Englisch sprach, verwies er auf den jungen Mann, der der besseren Kommunikation halber das Gespräch führen würde. Vincent hatte etwas Derartiges befürchtet. Er protestierte, wurde jedoch von Varga mit dem Versprechen vertröstet, dass er am Ende noch für Fragen zur Verfügung stünde. Daraufhin streckte ihm der Pressesprecher die Hand entgegen. Er sprach mit einem bemüht zur Schau getragenen britischen Akzent und stellte sich als Perry vor. Vincent tippte auf ein Studium im Ausland. Dort hatte er sich bestimmt auch den Namen zugelegt.
»Wir sind froh, dass sich Journalisten für unsere Arbeit interessieren. Immerhin tragen wir mit unseren Hotels und Event-locations ganz wesentlich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Stadt und der Region bei. Wir allein beschäftigen Hunderte Angestellte, ganz zu schweigen von den sekundär und tertiär Beschäftigten.«
Vincent nickte und löste den Handschlag, den Perry während seiner kleinen Rede aufrechterhalten hatte. Perry wies durch eine geöffnete Tür, und Vincent und Varga folgten ihm. Sie betraten einen abgedunkelten Besprechungsraum, und Vincent nahm vor einem barocken Schreibtisch Platz.
»Darf ich ein Diktiergerät verwenden?«, fragte er und hielt es fragend in die Höhe.
»Sicher doch«, antwortete Perry. Er wandte sich einem Silbertablett zu, das mit einer Flasche Whiskey, einer Karaffe Wasser und Gläsern bestückt war. Perry schenkte ihnen Whiskey ein, aber Vincent wehrte ab.
»Wasser, bitte.«
Perry füllte