Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
auf die Uhr schaute. Holland griff nach seiner Dienstmarke, doch die Schwester schloss schon wieder die Tür hinter sich.
»Sah wie eine Überdosis aus, als sie eingeliefert wurde. Dann wurde diese komische Koma-Sache entdeckt, und sie wurde hierher gebracht. Doch auch als man herausfand, dass es ein Gehirnschlag war, gab es offensichtlich keine Verbindung zu Backhand. Also kein Grund, nach Benzos zu suchen, und vor allem kein Grund, uns da mit reinzuziehen.«
Thorne blickte auf Alison Willetts hinab. Ihr Pony musste geschnitten werden. Ihre Augen rollten in ihren Höhlen nach oben. Wusste sie, dass die Polizei hier war? Konnte sie sie hören? Und konnte sie sich an etwas erinnern?
»Wenn Sie mich fragen, ist der Einzige, der wirklich nicht mehr zu retten ist, der Mörder, Sir.«
»Holen Sie uns eine Tasse Tee, Holland.«
Thorne löste seinen Blick nicht von Alison Willetts, und nur das Quietschen der Tür wies ihn darauf hin, dass Holland gegangen war.
Detective Inspector Tom Thorne hatte sich nicht für die Sonderkommission Backhand stark gemacht, war aber dankbar für jede Verstärkung aus der brandneuen Serious Crime Group. Die Umstrukturierung war für jeden verwirrend, und zumindest war Backhand eine Sonderkommission im alten Stil. Dennoch hatte er sich nicht um sie gerissen. Natürlich stand er dort im Scheinwerferlicht, doch Thorne gehörte zu der Sorte von Polizisten, die nur widerwillig einen Fall übernahmen, wenn er augenscheinlich nicht zu lösen war. Und dieser Fall war total verrückt. Keine Frage. Drei Morde, von denen sie wussten und bei denen die Opfer durch die Einschnürung der Basilararterie gestorben waren. Irgendein Wahnsinniger passte Frauen in ihren Wohnungen ab, pumpte sie mit Drogen voll und versetzte ihnen einen Gehirnschlag.
Versetzte ihnen einen Gehirnschlag.
Hendricks gehörte zu den praktischeren Pathologen. Vor einer Woche war Thorne nicht gerade entzückt gewesen, als Hendricks in seinem Labor seine feuchtkalten Hände an seinen Kopf und Hals legte, um zu demonstrieren, wie die Opfer ermordet worden waren. »Verdammt noch mal, Phil, was glaubst du, was du hier treibst?«
»Halt’s Maul, Tom, du bist voll auf Beruhigungsmittel. Ich kann mit dir alles tun, was ich will. Ich biege deinen Kopf in diese Richtung und drücke auf diese Stelle hier, um deine Arterie zu knicken. Das ist ein ganz ausgefeiltes Verfahren, man braucht dafür spezielles Wissen ... ich weiß nicht, Armee? Kampfsport, vielleicht? Auf jeden Fall ist er ein ausgekochtes Bürschchen. Keine sichtbaren Verletzungen. Das ist praktisch nicht zu entdecken.«
Praktisch.
Christine Owen und Madeleine Vickery hatten beide zur Risikogruppe gehört: Eine war im mittleren Alter, die andere war starke Raucherin gewesen und hatte die Pille genommen. Sie wurden an jeweils entgegengesetzten Enden von London tot in ihren Wohnungen aufgefunden. Dass sie sich kurz zuvor mit Karbolseife gewaschen hatten, war vom zuständigen Pathologen entdeckt worden, und obwohl dies Christine Owens Ehemann und Madeleine Vickerys Mitbewohner seltsam vorkam, konnten sie das Stück Karbolseife im Badezimmer weder leugnen noch erklären. Bei beiden Opfern wurden Spuren eines Beruhigungsmittels nachgewiesen,• erklärt wurde dies in Owens Fall damit, dass sie wegen ihrer Depression das Mittel verschrieben bekommen hatte, bei Vickery führte man es auf ihren gelegentlichen Drogenkonsum zurück. Diese tragischen, aber offenbar natürlichen Tode waren somit nicht miteinander in Verbindung gebracht worden.
Bei Susan Carlish gab es keine allgemein gültigen Risikofaktoren für einen Gehirnschlag, auch die Beruhigungsmittel, die in ihrem Einzimmerapartment in Waterloo in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurden, gaben Rätsel auf. Es lag an den durchtrennten Bändern in ihrem Hals und an einem verdammt guten Pathologen, dass sie der Sache auf die Spur gekommen waren. Selbst Hendricks musste dieses Puzzlestück pathologischer Arbeit bewundern. Sehr clever.
Aber nicht so clever wie der Mörder.
»Er spielt ein Spiel mit Prozenten, Tom. Es laufen eine Menge Menschen mit Risikofaktoren für einen Gehirnschlag in der Gegend rum. Du zum Beispiel.«
»Häh?«
»Bei deinem Weinkonsum bist du doch Stammkunde im Threshers, oder?«
Thorne wollte protestieren, hielt sich dann aber zurück. Er hatte oft genug mit Hendricks eine Sauftour unternommen.
»Er wählt drei verschiedene Stadtteile von London aus und weiß, dass die Wahrscheinlichkeit praktisch bei null liegt, dass eine Verbindung zwischen den Opfern hergestellt wird. Er tötet weiter, und wir sind kein bisschen schlauer.«
Thorne lauschte dem beharrlichen Keuchen von Alisons Beatmungsmaschine. Locked-in-Syndrom wurde ihr Zustand genannt. Man wusste nicht sicher, ob sie hören, sehen oder fühlen konnte. Höchstwahrscheinlich bekam Alison alles um sich herum mit, war aber nicht in der Lage, sich zu bewegen. Nicht den kleinsten Muskel.
Syndrom war nicht das richtige Wort. Es war ein Urteil. Und was war mit dem Bastard, der das Urteil gesprochen hatte? Ein Kampfsport-Spinner? Ein Typ aus einer Spezialeinheit? Das war, was die Polizei bestenfalls vermuten konnte. Die einzige Vermutung. Aber damit waren sie auch nicht schlauer als vorher ...
Drei verschiedene Stadtteile von London. War das ein Durcheinander! Drei Commander, die um einen Tisch sitzen, »Wer hat den größten Pimmel?« spielen und die Sonderkommission Backhand ins Leben rufen.
Was das Team betraf, so hatte er keine Bedenken. Tughan war zumindest effizient, und Frank Keable war als Vorgesetzter ein guter Detective Chief Inspector, wenn auch manchmal ... zu vorsichtig. Thorne würde mit ihm einmal über Holland und dessen Notizbuch reden müssen. Er legte das blöde Ding niemals aus der Hand. Würde die Abteilung denn nie einen Mitarbeiter einstellen, dessen Gedächtnis etwas größer war als das eines durchschnittlichen Goldfisches?
»Sir?«
Der Goldfisch-Junge war mit dem Tee zurück.
»Wer hat uns den Tipp über Alison Willetts gegeben?«
»Das müsste die Neurologin gewesen sein ... äh ... Doktor ... «
Holland räusperte sich und schluckte. Er hielt zwei Plastikbecher mit heißem Tee in Händen und konnte sein Notizbuch nicht herausziehen. Thorne entschloss sich, nett zu sein, und nahm ihm einen Becher ab, sodass Holland nach seinem Notizbuch greifen konnte.
»Dr. Coburn, Anne Coburn. Sie unterrichtet heute im Royal Free Hospital. Ich habe für heute Nachmittag einen Termin mit ihr vereinbart.«
»Noch eine Ärztin, der wir danken müssen.«
»Ja, und noch eine Portion Glück, wie es aussieht. Ihr Mann ist Pathologe, David Higgins. Er arbeitet manchmal in der Gerichtsmedizin. Sie erzählt ihm von Alison Willetts, und er sagt: ›Das ist interessant, weil ... ‹«
»Was? Und er sagt, und sie sagt? Das hört sich doch eher wie Tratsch hinter vorgehaltener Hand an.«
»Ich weiß nicht, Sir. Das müssen Sie sie selbst fragen.«
Während er zur Seite trat, damit eine blasse, rotblonde Krankenschwester die Kanüle wechseln konnte, reichte Thorne seinen nicht angerührten Tee an Holland zurück.
»Sie bleiben hier und warten auf Hinnegan.«
»Aber, Sir, der Termin ist erst um halb fünf.«
Er stapfte eine Reihe von Fluren mit aufgesprungenen roten Linoleumböden entlang — auf der Suche nach dem nächsten Ausgang, um dem Geruch zu entkommen, den er genauso sehr hasste wie jeder andere rechtschaffene Mensch auf der Welt. Obwohl die Intensivstation sich in einem neueren Flügel des National Hospital für Neurologie und Neurochirurgie befand, war der Geruch der gleiche. Desinfektionsmittel, vermutete er. In Schulen benutzten sie etwas Ähnliches, doch das weckte in ihm nur die Erinnerung an die vergessenen Sportklamotten und den Schrecken, den Sportunterricht in Unterhosen absolvieren zu müssen. Das hier war ein anderer Geruch.
Dialyse und Tod.
Er nahm den Fahrstuhl nach unten zum Eingangsbereich, dessen imposante viktorianische Architektur einen überraschenden Kontrast zum modernen, offenen Stil des Krankenhausbaus bildete. Die Kappsteine entlang der Wände und