Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
wissen und zu fühlen muss wunderbar sein.
Du meine Güte, was denke ich mir nur dabei? Es tut mir Leid. Ich sollte dir das gar nicht erzählen. Meinst du nicht auch, Alison?«
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Sue und Kelly von der Kinderklinik haben mich gestern besucht. Meine Sehfähigkeit hat sich schon deutlich verbessert. Ich konnte erkennen, dass Sue ihren Eyeliner wie immer zu dick aufgetragen hatte. Es wird viel geschwätzt. Offenbar nicht so viel wie sonst, seit ich hier drin liege, aber immer noch genug. Mary, die Leiterin, scheißt offenbar jeden an, sitzt nur auf ihrem Arsch und korrigiert die Rechtschreibfehler auf den Karteikarten der Neugeborenen. Sie haben mir erzählt, dass Daniel letzte Woche wegen mir geweint hat und dass wir uns alle nach meiner Entlassung voll laufen lassen würden und dass sie lieber jeden Tag hier wären, als voll geschissene Windeln für einen Hungerlohn zu wechseln. Sie haben Daniel gesagt, ich sei nach Spanien in Urlaub gefahren ...
Danach war nicht mehr viel los.
Aber dann gab es endlich mal was richtig Aufregendes. Ein Bettpfannen-Reinigungsgerät oder so was Ähnliches war verstopft. Ich weiß, es hört sich nicht weltbewegend an, aber überall war Wasser, und die Schwestern waren echt sauer.
Aufregung ist relativ, denke ich.
Ich habe von meiner Mutter geträumt. Sie war jung wie damals, als ich noch zur Schule ging. Sie zog mich an, und ich stritt mit ihr über die Klamotten, und sie weinte und weinte ...
Und ich träumte von dem Mann, der mir das angetan hat. Ich träumte, dass er hier in meinem Zimmer war und mit mir redete. Ich habe seine Stimme gleich erkannt. Aber ich kenne diese Stimme auch von der Zeit danach, nachdem es passiert ist. Mein Gehirn ist völliger Matsch. Er saß neben meinem Bett, drückte meine Hand und wollte mir erklären, warum er es getan hat. Aber eigentlich habe ich nichts davon verstanden. Er meinte, ich sollte glücklich sein.
Diese Stimme hatte gesagt, ich solle mich amüsieren, nachdem er mir die Champagnerflasche gereicht und ich einen Schluck getrunken hatte.
Ich muss ihn hereingebeten haben. Ja, so muss es gewesen sein. Ich nehme an, die Polizei weiß das. Ob sie das wohl Tim erzählt haben!
Diese Träume sind jetzt das, was am ehesten an Gefühle heranreicht. Sie sind so lebhaft. Es wäre fantastisch, wenn man einen Knopf drücken und den nächsten Traum einfach auswählen könnte. Klar, irgendjemand müsste den Knopf für mich drücken, aber es wäre schon eine tolle Sache.
Wenn man so versaut wurde wie ich, kann man selbst keine Schweinereien mehr machen. Ist doch so, oder!
Drei
Mit dem Sommer hatte Thorne Unrecht gehabt. Nach zwei Wochen Urlaub war er mit einer stickigen Rache zurückgekehrt, und die Sirenenrufe des Waschsalons konnten nicht länger überhört werden. Thorne war sich des Geruchs, der von ihm ausströmte, sehr wohl bewusst, als er in Schweiß gebadet in Frank Keables Büro saß.
»Wir konzentrieren uns auf Ärzte, die gegenwärtig im Zentrum von London im Einsatz sind, Sir.«
Frank Keable war nur ein oder zwei Jahre älter als Thorne, sah aber aus wie fünfzig. Das war eher auf eine genetische Panne zurückzuführen als auf Stress. Die Jungs vermuteten, dass er bereits seit der Pubertät körperlich abbaute, wenn man sich seinen Haaransatz betrachtete, der schon weit in Richtung Genick gerutscht war. Welche Hormone ihm auch immer geblieben waren, die, die seinen Haarwuchs hätten fördern können, hatten sich fälschlicherweise auf seine Augenbrauen konzentriert, die ausdrucksstark wie zwei große Raupen über seinen leuchtend blauen Augen saßen und ihm tatsächlich den Anschein von Weisheit verliehen. Niemand missgönnte ihm dieses Glück — es war die letzte Hoffnung eines Menschen, der aussah wie eine voll gefressene Eule mit Haarausfall.
Keable hob fragend eine Augenbraue. »Es könnte von Vorteil sein, wenn wir unseren Radius erweitern, Tom. An Arbeitskräften mangelt es uns nicht.«
Thorne blickte skeptisch drein, doch Keable klang zuversichtlich.
»Es ist ein großer Fall, Tom, das wissen Sie. Wenn Sie Leute brauchen, um die Sache ein bisschen auszuweiten, kriege ich das schon hin.«
»Schaden kann es nicht, Sir, schließlich ist die Liste der Verdächtigen endlos. Aber ich bin mir sicher, er kommt von hier.«
»Der Brief?«
Thorne spürte erneut die schweren Regentropfen in seinem Hemdkragen, die zwischen seine Schulterblätter gelaufen waren. Und noch immer fühlte er das Plastik zwischen seinen Fingern, während er die Worte des Mörders gelesen hatte und ihm das Wasser in die Augen gelaufen war wie Tränen, die nach Hause kommen.
Der Mörder hatte gewusst, wo Alison behandelt wurde. Offenbar verfolgte er den Fall aus nächster Nähe — sowohl die Seite der Polizei als auch die von Alison.
»Ja, der Brief. Und der Ort. Ich glaube, er möchte in der Nähe sein, um ein Auge auf die Dinge zu haben.«
Um seine Arbeit zu überwachen.
»Lohnt es sich, das Krankenhaus zu beobachten?«
»Mit Verlaub, Sir, dort wimmelt es nur so von Ärzten ... im Moment sehe ich keinen Sinn darin.« Sein Blick wanderte zu dem Kalender an der schmutzig gelben Wand — ein Bild des West Country. Keable stammte ursprünglich aus Bristol ... Bei der Hitze konnte man sich nicht konzentrieren. Thorne öffnete einen weiteren Knopf seines Hemdes. Polyester. Ganz schön dumm. »Ist es möglich, den Ventilator einzuschalten?«
»Oh, Entschuldigung, Tom.«
Keable drückte einen Schalter am Ventilator, der vor- und zurückschwenkte und Thorne etwa alle dreißig Sekunden einen angenehmen Schwall kühler Luft zuwehte. Keable lehnte sich zurück und seufzte. »Sie glauben nicht, dass wir den Fall knacken können, Tom?«
Thorne schloss die Augen, als der Ventilator in seine Richtung schwenkte.
»Tom, hat das etwas mit dem Calvert-Fall zu tun?«
Thorne blickte erneut zum Kalender. Zwei Wochen waren vergangen, seit sie Alison gefunden hatten, und bis jetzt hatten sie nichts in der Hand. Zwei Wochen hatten sie ihre Köpfe gegen die Wand geknallt und nichts als Kopfschmerzen bekommen.
Besorgnis, oder wie immer man es auch nennen wollte, war aus Keables Stimme herauszuhören. »Fälle wie dieser, das ist doch völlig verständlich ... «
»Seien Sie nicht albern, Frank ... «
Keable lehnte sich rasch nach vorn. »Ich bin nicht unempfänglich für ... Stimmungen, Tom. Dieser Fall riecht danach. Es ist kein ... üblicher Fall. Sogar ich spüre das.«
Thorne lachte. Sie waren alte Kollegen. »Sogar Sie, Frank?«
»Genau, Tom.«
»Calvert ist Geschichte.«
»Das hoffe ich. Ich möchte, dass Sie das im Auge behalten.« Keable sah, dass Thorne unmerklich nickte. »Ich denke, wir werden in die Polizeigeschichte eingehen, wenn wir ihn schnappen. Zunächst sollten wir die Schreibmaschine finden, auf der der Brief geschrieben wurde.«
Keable seufzte erneut und nickte. Die altmodische Schreibmaschine war ein Glücksfall und würde einfacher zu identifizieren sein als ein Laserdrucker, doch zuerst brauchten sie einen Verdächtigen. Er war schon oft in einer ähnlichen Situation gewesen. Es war nicht einfach, Begeisterung über Beweismaterial zu zeigen, das nur von Nutzen war, wenn sich jemand bereits in Polizeigewahrsam befand. Keable, der sich stets an die Vorschriften hielt, wusste, wo seine Stärken lagen. Er war ein guter Koordinator. Sein Bewusstsein für diese Eigenschaft hatte es ihm ermöglicht, während seiner Karriere andere Kollegen zu überspringen, Thorne inbegriffen. Deswegen nahmen ihm seine Kollegen seinen Erfolg auch nicht übel. Er erkannte die Talente der anderen und hielt die Fahne des Teamgeistes hoch. Er war beliebt. Er half, wo er konnte, und ließ die Arbeit am Ende des Tages im Büro. Er schlief gut und führte eine glückliche Ehe — anders als mancher Kollege. Thorne inbegriffen. »Er wird einen Fehler machen, Tom. Wenn wir etwas über einen Medikamentendiebstahl herausfinden, können wir die Sache eingrenzen.«
Thorne