Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham

Der Kuss des Sandmanns - Mark  Billingham


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er nicht sagen, dass er unglücklich war, seit Jan ihn verlassen hatte. O Gott, sie waren seit drei Jahren geschieden, und gegangen war sie vor fast fünf, doch noch immer hatte er das Gefühl, als würde ... die Welt um ihn herum schwanken. Er hatte gedacht, durch den Umzug in die neue helle Wohnung würde sich einiges ändern. Er war optimistisch gewesen. Allerdings hatte er zu den Dingen, die ihn umgaben, keine wirkliche Verbindung. Sie waren funktionell. Er konnte in Sekundenschnelle vom Stuhl aufstehen und ins Bett steigen, doch das Bett war zu neu und tragischerweise noch nicht wirklich eingeweiht.

      Er kam sich vor wie ein gesichtsloser Geschäftsmann in einem anonymen Hotelzimmer.

      Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Jan wegen der Arbeit gegangen wäre. So etwas hatte er schon oft miterlebt und oft genug im Fernsehen mitverfolgt — die Ehefrauen hatten es satt, die zweite Geige neben der Arbeit zu spielen, aber Jan hatte ihre eigenen Gründe gehabt, um zu gehen. Die einzige Arbeit, die in der chaotischen Geschichte tatsächlich eine Rolle gespielt hatte, war ihr wöchentliches Treffen am Mittwochnachmittag mit dem Leiter des Kurses für kreatives Schreiben.

      Bis er sie erwischt hatte. Mitten am Tag bei zugezogenen Vorhängen.

      Jan sagte ihm später, sie habe nicht verstanden, warum Thorne ihn nicht geschlagen hätte. Darauf hatte sie nie eine Antwort bekommen. Selbst als der dürre Mistkerl mit hin und her pendelndem Schwanz aus dem Bett gehüpft war und nach seiner Brille gegriffen hatte, hatte Thorne gewusst, dass er ihn nicht schlagen würde. Während ihn der heftige Schmerz überrollt hatte, war ihm klar geworden, dass er es nicht ertragen hätte, sie schreien zu hören, den Hass in ihren Augen zu sehen oder zuzuschauen, wie sie zu dem kleinen Arsch gerannt wäre, der, vor der Garderobe zusammengesunken, gestöhnt und versucht hätte, die Blutung zu stoppen.

      Einige Wochen später hatte Thorne vor dem College gewartet, war dem Kerl gefolgt, hatte ihn beobachtet. Beim Einkaufen. Beim Gespräch mit Studenten auf der Straße. Auf dem Weg zu seiner kleinen Wohnung in Islington, wo vor dem Haus bunte Fahrräder angekettet waren und Plakate in den Fenstern hingen. Dieses Wissen hatte ihm gereicht.

      Du gehörst mir, falls ich mich je entscheide, dich zu schnappen.

      Doch nach einer Weile schien auch das sinnlos zu sein. Er ließ die Sache bleiben. Jetzt verbrachte er seine freie Zeit mit Rotwein und mit leidenschaftlicher Musik.

      Ja, er hatte die Arbeit mit nach Hause genommen — besonders nach Calvert, als ihm die Dinge eine Zeit lang aus den Händen geglitten waren —, doch sie hatten einfach zu jung geheiratet. Das war alles. Wenn sie Kinder gehabt hätten ...

      Thorne überflog die Fernsehseiten im Standard. Dienstagabend und nur Mist im Fernsehen. Schlimmer noch, auf Sky hatten sie um acht Uhr das Spiel der Spurs gegen Bradford gezeigt. Er hatte das völlig vergessen. Heimspiel gegen Bradford — müsste eigentlich drei Punkte geben. Im Teletext, dem besten Freund des Fußballfans, erfuhr er die schlechten Nachrichten.

      Sie war mit dem Rücken an seinen Beinen nach unten gerutscht. Ihre Fingerknöchel lagen auf dem polierten Holzboden. Er stand hinter ihr, hatte beide Hände in ihrem Nacken und machte sich bereit. Er blickte sich im Zimmer um. Alles war perfekt, die Sachen lagen in Reichweite.

      Ihr Unterkiefer fiel herunter, und ein leises Gurgeln war zu hören. Ganz langsam erhöhte er den Druck an ihrem Hals. Es bestand kein Anlass zu sprechen. Abgesehen davon hatte er schon genug von ihr gehört.

      Eineinhalb Stunden zuvor hatte er beobachtet, wie sich eine Gruppe von Mädchen getrennt hatte. Zwei waren zur U-Bahn gegangen, zwei andere zur Bushaltestelle. Eine war die Holloway Road hinuntergewankt. Sie schien hier zu wohnen. Vielleicht hätte sie Lust, noch etwas mit ihm zu trinken.

      Er war mit dem Wagen links abgebogen, einmal um den Block gefahren und etwa zwanzig Meter vor ihr wieder auf die Hauptstraße gekommen. An der Kreuzung hatte er gewartet, bis sie den Wagen fast erreicht hatte, dann war er ausgestiegen.

      »Entschuldigung ... es tut mir Leid ... aber ich habe mich offenbar furchtbar verfahren«, sagte er mit gekonntem Nuscheln, als wäre er angetrunken.

      »Wohin wollen Sie denn?«

      Argwohn. Aber nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste — nur ein beschwipster Schnösel, der sich im Kreisverkehr auf der Archway Road verfahren hatte. Als er seine Brille abnahm, sah er aus, als hätte er Schwierigkeiten geradeaus zu schauen ...

      »Hampstead ... tut mir Leid ... ich hatte ein bisschen zu viel ... sollte eigentlich nicht mehr fahren, wenn ich ehrlich bin.«

      »Ach, ist schon in Ordnung, Kumpel. Hab’s selbst übertrieben ... «

      »Eine Clubtour?«

      »Nein, nur in einem Pub — Geburtstag einer Freundin ... echt toll.«

      Gut. Er war froh, dass sie glücklich war. Umso mehr Lebenswillen hatte sie. Also ...

      »Ich nehme an, Sie möchten keinen Schlummertrunk mehr?« Er griff durchs Wagenfenster und präsentierte mit einer schwungvollen Gebärde eine Flasche Champagner.

      »Ich werd verrückt. Was feiern Sie denn?«

      Du meine Güte, was machten die Mädchen bloß für ein Aufhebens um eine Flasche Schampus? Wie die Golduhr eines Hypnotiseurs.

      »Hab sie bei einer Party gemopst.« Dann das Kichern. »Ein letzter Drink?«

      Dreißig Minuten bedeutungsloses Blabla. Sie war vollkommen mit ihrem eigenen Zeug beschäftigt. Nitas Freund ... Linzis Probleme bei der Arbeit ... ein paar dreckige Witze. Er hatte gelächelt, genickt und gelacht. Dann war es Zeit für den unschuldig aussehenden Mann, seine narkotisierte Freundin hinten in den Wagen zu verfrachten und zu sich nach Hause zu fahren.

      Dann hatte er telefoniert und sie zurechtgesetzt.

      Und jetzt war Helen gar nicht mehr so geschwätzig.

      Wieder dieses verzweifelte Gurgeln von irgendwo ganz tief unten.

      »Psst, Helen, entspann dich. Es wird nicht lange dauern.«

      Er positionierte seine Daumen jeweils rechts und links des knochigen Höckers am Schädelansatz und suchte nach dem Muskel, über den er mit ihr sprach.

      »Spürst du diesen Muskel, Helen?«

      Sie stöhnte.

      »Der Sternocleidomastoideus. Ich weiß, ein dämlich langes Wort. Mach dir nichts draus. Es ist der Kopfwendermuskel, der bis zum Schlüsselbein reicht. Das, was ich suche, liegt hier drunter ... « Er keuchte, als er es gefunden hatte. »Hier.«

      Langsam legte er seine Finger um die Halsschlagader und begann zu drücken.

      Er schloss die Augen und zählte in Gedanken die Sekunden. Zwei Minuten würden reichen. Er spürte, wie ein Schauer durch ihren Körper und durch seine dünnen Einmal-Handschuhe lief. Er nickte respektvoll in Bewunderung der Anstrengung, die selbst eine solch kleine Bewegung gekostet haben musste.

      Er dachte über ihren Körper nach und darüber, wie er ihn berühren könnte. Sie gehörte ihm, sodass er tun könnte, wonach ihm der Sinn stand. Er könnte seine Hände unter ihre Bluse gleiten lassen. Er könnte sie umdrehen und in ihren Mund eindringen. Doch das würde er nicht tun. Er hatte schon bei den anderen daran gedacht, doch die Sache hatte nichts mit Sex zu tun.

      Nachdem er diese Möglichkeiten zur Genüge durchgespielt hatte, war er zu dem Ergebnis gekommen, dass dies ein normaler und gesunder Impuls war. Würde nicht jeder Mann das Gleiche bei einer Frau denken, die ihm ausgeliefert war? Die ihm so einfach zur Verfügung stand? Natürlich. Doch die Idee war nicht gut. Er wollte nicht, dass diese Angelegenheit als sexuelles Verbrechen eingestuft wurde.

      Das würde sie von der Fährte abbringen. Und er wusste zuviel über DNA.

      Aus Helens Kehle war ein Brummen zu hören. Sie konnte alles spüren, war sich ihrer selbst bewusst und kämpfte noch immer dagegen an.

      »Es dauert nicht mehr lange ... bitte sei jetzt still.«

      Er bemerkte ein Trommelgeräusch und blickte, ohne den Kopf zu drehen, hinunter,


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