Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
sehen, wie es Alison geht.«
Keable nickte nur. Sein Versuch, Tom Thorne moralisch zu unterstützen, war gescheitert, aber er hatte nichts anderes erwartet. Er räusperte sich, als Thorne sich erhob und zur Tür ging, sich dann aber noch einmal umdrehte.
»Dieser Brief war makellos, Frank. Der Bericht darüber war der kürzeste, den ich je gelesen habe. Und der Kerl wäscht die Leichen nicht auf Grund eines Rituals. Er ist nur sehr, sehr vorsichtig.«
Keable richtete den Ventilator wieder in seine Richtung. Er war sich unsicher, welche Antwort Thorne von ihm erwartete. »Ich habe mich gefragt, ob die Jungs nicht ein paar Blumen oder so was vorbeibringen sollten. Ich meine, ich habe darüber nachgedacht, aber ... «
Thorne nickte.
»Ja, Sir, ich weiß. Es scheint kaum der Mühe wert zu sein.«
»Sie sind wirklich schön. Es war nett, dass Sie daran gedacht haben.« Anne Coburn stellte die Blumen in eine Vase und schloss die Vorhänge in Alisons Zimmer.
»Ich wollte schon früher kommen, aber ... «
Sie nickte verständnisvoll. »Sie hätten kurz schriftlich gratulieren können, allerdings ... «
Thorne blickte auf Alison hinunter. Im gleichen Augenblick hatte er verstanden. Es war nicht leicht zu erkennen, dass ein Gerät inmitten des Wirrwarrs von lebenserhaltenden Maschinen fehlte. Sie atmete. Der Atem war flach, aber es war ihr eigener. Ein Schlauch führte durch ein Loch in ihre Luftröhre, die mit einer Sauerstoffmaske abgedeckt war.
»Gestern Abend wurde sie von der Beatmungsmaschine genommen, und wir haben einen Luftröhrenschnitt gemacht.«
Thorne war beeindruckt. »Aufregender Abend.«
»Oh, hier herrscht ununterbrochen Aufregung. Vor einer Weile gab es eine kleine Überschwemmung. Haben Sie jemals Krankenschwestern in Gummistiefeln gesehen?«
Er grinste. »Ich habe mal einen komischen Pornofilm gesehen ... «
Er hörte sie zum ersten Mal lachen. Es klang dreckig.
Thorne nickte in Richtung der Blumen, die er unterwegs an einer Tankstelle gekauft hatte. Sie waren nicht so schön, wie Anne Coburn gesagt hatte. »Ich kam mir letztes Mal wie ein Idiot vor, wissen Sie. Als ich geflüstert habe. Wenn sie hören kann, habe ich mir gedacht, muss sie auch riechen können ... «
»Diese hier wird sie auf jeden Fall riechen.«
Plötzlich bemerkte Thorne wieder, wie er unter den Armen schwitzte. Er drehte sich zu Alison um. »Wenn wir schon beim Thema sind ... es tut mir Leid, Alison. Ich muss echt müffeln.« Er war verlegen angesichts der Stille, wo er normalerweise eine Antwort erwartet hätte. Er hoffte, er würde sich daran gewöhnen, mit dieser Frau zu reden, in deren Hals und Nase jeweils ein Schlauch steckte. Sie war unfähig, sich zu räuspern. Sie war unfähig, ihre Hand zu heben, die blass und schwer auf der rosa geblümten Steppdecke lag. Sie war ... unfähig. Und trotzdem hoffte Thorne selbstsüchtig, dass sie gut über ihn dachte, dass sie ihn mochte. Er wollte mit ihr reden. Er würde mit ihr reden müssen.
»Sie müssen die Lücken selbst füllen«, sagte Coburn. »Das tue ich auch immer. Wir führen wirklich tolle Gespräche.«
Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann mittleren Alters in einem tadellosen Anzug trat ein. Auf den ersten Blick schien er Zuckerwatte auf dem Kopf zu tragen.
»Oh ... « Coburns Gesicht verhärtete sich. »David, entschuldige, aber ich bin beschäftigt.«
Sie blickten einander an, bis sie die bedrückende, feindliche Stille schließlich durchbrach. »Das hier ist Detective Inspector Thorne. David Higgins.«
Der zukünftige Exmann. Der hilfreiche Pathologe.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Thorne streckte die Hand aus, die der makellose Anzug schüttelte, ohne ihn — oder Alison — anzuschauen.
»Du hast gesagt, die Zeit sei günstig«, sagte der Anzug mit einem angestrengten Lächeln.
Er versuchte offenbar, Thorne gegenüber freundlich zu sein, wirkte dabei aber völlig unnatürlich. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass die Zuckerwatte in Wirklichkeit eine aufgemotzte und mit Haarspray in Form gehaltene blonde Tolle war — eine lächerliche Affektiertheit bei einem Mann, der mindestens fünfundfünfzig war und damit aussah, als würde er gerade von den Dreharbeiten zu Denver-Clan kommen.
»Nun, jetzt nicht mehr«, erwiderte Coburn kalt.
»Mein Fehler, Mr. Higgins«, sagte Thorne. »Ich hatte keinen Termin.«
Higgins ging zur Tür, während er seine Krawatte zurechtrückte. »Gut, dann würde ich an Ihrer Stelle in Zukunft lieber einen Termin vereinbaren. Genau aus diesem Grund rufe ich dich später an, Anne.« Geräuschlos schloss er die Tür hinter sich. Auf dem Flur wurde leise geredet und die Tür von einer Krankenschwester erneut geöffnet. Es war Zeit, Alison zu waschen.
Anne Coburn wandte sich Thorne zu. »Gehen Sie mittags essen?«
Sie saßen im hinteren Teil einer kleinen Sandwich-Bar auf der Southampton Row. Baguette mit Schinken und Brie, dazu Mineralwasser. Ein Sandwich mit Tomaten und Käse, dazu ein Kaffee. Wie zwei wichtige Geschäftsleute.
»Wie stehen Alisons Chancen auf bedeutsame ... «
»Leider gleich null. Ich nehme an, es hängt ein bisschen von Ihrer Definition von ›bedeutsam‹ ab, aber wir müssen realistisch sein. Es gibt dokumentierte Fälle von Patienten, die wieder in der Lage sind, sich so zu bewegen, dass sie mit einem automatischen Rollstuhl fahren können. In Amerika wird viel mit Computern gearbeitet, die über einen Stab am Kopf bedient werden, aber realistisch betrachtet sind die Aussichten düster.«
»Gab es nicht jemanden in Frankreich, der ein ganzes Buch mit den Augenlidern diktiert hat?«
»Der mit dem Auge spricht — Sie sollten es lesen. Alisons Augen reagieren auf Stimmen, und sie scheint die Fähigkeit zu blinzeln zurückerlangt zu haben, aber ob sie die volle Kontrolle darüber hat, lässt sich im Moment schwer sagen. Ich sehe noch nicht, dass sie Ihnen irgendwelche Angaben machen kann.«
»Das war nicht der Grund, warum ich gefragt habe ... jedenfalls nicht der einzige.« Thorne nahm einen Bissen von seinem Sandwich.
Anne hatte zwar den größten Teil des Gesprächs bestritten, ihr Baguette aber bereits aufgegessen. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Also, Sie haben einen Einblick in mein verheerendes Privatleben bekommen«, sagte sie mit verschwörerischer Stimme. »Wie sieht es mit Ihrem aus?« Sie trank einen Schluck von ihrem Mineralwasser und schaute ihm mit theatralisch gebogenen Augenbrauen beim Kauen zu. Sie lachte, als er zweimal versuchte zu antworten und zweimal seine Bemühungen aufgab, um zu schlucken.
»Was — Sie meinen, es ist verheerend?«, konnte er schließlich sagen.
»Nein. Nur ... haben Sie ein Privatleben?«
Thorne bekam diese Frau nicht in den Griff. Ein hitziges Temperament, eine dreckige Lache und eine direkte Art, Fragen zu stellen. Es war zwecklos, um den heißen Brei herum zu reden.
»Ich habe einen mühelosen Wechsel von ›verheerende‹ zu ›trübe‹ vollzogen.«
. »Ist das die normale Entwicklung?«
»Ich denke ja. Manchmal gibt es auch eine kurze ›mitleidsvolle‹ Phase, aber nicht immer.«
»Oh, gut, darauf freue ich mich schon.«
Thorne beobachtete sie, wie sie in ihrer Tasche nach Zigaretten kramte und schließlich die Schachtel in die Höhe hielt. »Stört es Sie?«
Thorne verneinte, und sie zündete sich eine Zigarette an. Sie stieß den Rauch seitlich aus, weg von ihm. Es war viel Zeit vergangen seit seiner letzten Zigarette.
»Es rauchen mehr Ärzte, als man denkt. Und eine überraschend große Anzahl von Krebsspezialisten. Ich bin erstaunt, dass nicht mehr von uns Drogen nehmen, um ehrlich zu sein.