Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham

Der Kuss des Sandmanns - Mark  Billingham


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gefahren?«

      Thorne hatte keine Ahnung, doch er hatte einige Nachforschungen angestellt. »Auf dem direkten Weg von Camberwell bis Whitechapel ist er allein an drei großen Krankenhäusern vorbeigekommen. Wie hat er sie am Leben erhalten?«

      »Wahrscheinlich mit Handbeatmungsbeutel und Atemmaske. Vielleicht musste er alle zehn Minuten halten und ein paar Mal auf den Beutel drücken, aber das ist ziemlich einfach.«

      »Also ein Arzt?«

      »Ich glaube ja. Vielleicht ein gescheiterter Medizinstudent — Chiropraktiker, möglicherweise ... ein belesener Physiotherapeut, der gerade richtig mies drauf ist. Ich habe keine Ahnung, wo Sie anfangen könnten.«

      Holland unterbrach die Kritzeleien in seinem Notizbuch. »Eine subkutane Nadel in einem Heuhaufen?«

      Dr. Coburns Gesichtsausdruck sagte Thorne, dass sie die Bemerkung ebenso witzig fand wie er.

      »Am besten ist, Sie fangen gleich mit der Suche an, Holland«, sagte Thorne. »Wir sehen uns morgen. Nehmen Sie sich ein Taxi zurück.«

      Jeder Schritt, den er und Dr. Coburn sich auf Alisons Zimmer zubewegten, erfüllte Thorne mit etwas, das in Richtung Grauen ging. Es war ein furchtbarer Gedanke, aber er hätte es leichter gefunden, wenn Alison eine von Hendricks »Patientinnen« gewesen wäre. Er fragte sich, ob dies nicht auch für Alison einfacher gewesen wäre. Sie gingen durch den Chandler-Flügel und nahmen den Aufzug zur Intensivstation im zweiten Stock.

      »Sie mögen keine Krankenhäuser, Detective Inspector, stimmt’s?«

      Eine komische Frage. Thorne bezweifelte, dass irgendjemand Krankenhäuser mochte. »Ich habe zu viel Zeit darin verbracht.«

      »Beruflich, oder ...?« Sie zögerte. Waren dies die richtigen Worte? »Als Amateur?«

      Thorne blickte ihr direkt ins Gesicht. »Ich hatte letztes Jahr eine kleine Operation.« Doch das war nicht der Punkt. »Und meine Mutter war lange Zeit im Krankenhaus, bevor sie starb.«

      Coburn nickte. »Gehirnschlag.«

      »Drei Stück. Vor achtzehn Monaten. Sie wissen wirklich, wie ein Gehirn funktioniert, oder?«

      Sie lächelte. Er lächelte zurück. Gemeinsam verließen sie den Fahrstuhl.

      »Übrigens war es ein Leistenbruch.«

      Die Schilder an den Wänden faszinierten Thorne: Bewegung und Gleichgewicht; Senilität; Demenz. Es gab sogar eine Kopfschmerzabteilung. Es herrschte geschäftiges Treiben, doch er sah kein Blut, keine Verbände oder Pflaster. Die Flure und Wartebereiche waren voller Menschen, die langsam und wohl überlegt einen Fuß vor den anderen setzten. Sie blickten verloren oder verwirrt drein. Thorne fragte sich, wie er auf sie wirkte.

      Wahrscheinlich ziemlich ähnlich.

      Schweigend gingen sie an einer Kantine vorbei; das Geschnatter erinnerte Thorne eher an eine Fabrik oder ein großes Bürogebäude. Ob sie wohl jemals diesen Geruch aus dem Essen herausbekommen?

      »Was ist mit den Ärzten? Sind wir auf Ihrer Liste?«

      Eine lächerliche Sekunde lang fragte er sich, ob sie ihn anmachte. Dann erinnerte er sich an die Gesichter dieser verdammten Medizinstudenten. Dies hier war eine Frau, bei der er höllisch aufpassen musste. »Na ja, im Moment nicht. Es gibt zu viele Ärzte, die uns über diese Sache auf dem Laufenden halten müssen. Angefangen bei Ihnen.«

      »Ich denke, diese Lorbeeren gebühren meinem Mann«, sagte sie mit energischer Stimme, aber ohne eine Spur falscher Bescheidenheit.

      Sie merkte, wie Thorne verstohlen dorthin schielte, wo eigentlich ein Ehering sein sollte. »Bald mein Exmann, hätte ich sagen sollen. Scheinbar einer der zivilisierteren Momente in einer ziemlich blöden ›Wie-sollen-wir-mit-derScheidung-umgehen‹-Phase.«

      Thorne blickte stur geradeaus und sagte nichts. Mein Gott, er war ja so englisch!

      »Was ist mit dem Porzellan? Wer bekommt die Katze? Hast du von dem Wahnsinnigen gehört, der Londoner Frauen einen Gehirnschlag verpasst? Sie kennen solche Sachen ... «

      Phobie. Tod. Scheidung. Thorne fragte sich, ob sie vielleicht das Thema wechseln und lieber über die Nahost-Krise reden sollten.

      »Achtundvierzig Stunden nach Alisons Einlieferung haben wir eine Kernspintomographie durchgeführt. Um die Bänder zwischen den Halswirbeln herum war ein Ödem — leuchtend weiße Flecken auf dem Bildschirm. Die sieht man sonst nur beim Peitschenhiebsyndrom; bei Alison kam mir das ungewöhnlich vor. Abgesehen davon, was mein Mann mir gesagt hatte —«

      »Was ist mit dem Midazolam?«

      »Das Benzodiazepin, das er verwendet hat? Nüchtern betrachtet, war es ziemlich schlau, genau dieses Mittel zu nehmen, besonders weil es sehr wahrscheinlich war, dass Alison das gleiche Mittel in der Notaufnahme bekommen würde. Hilft das, damit Sie weiterhin im Trüben fischen können?«

      Thorne blieb vor Alisons Zimmer stehen. »Können wir das überprüfen?«

      »Hab ich schon. Ich kenne den Anästhesisten, der an dem Abend im Royal London Dienst hatte. Der toxikologische Befund zeigte in Alisons Blut Midazolam, doch es wäre ohnehin gefunden worden — es wurde verwendet, um sie in der Notaufnahme zu sedieren. Bei der Einlieferung nehmen wir routinemäßig Blut ab, also habe ich das überprüft. Midazolam war auch in der ersten Blutprobe vorhanden. Deswegen habe ich mit der Polizei Kontakt aufgenommen.«

      Thorne nickte. Ein Arzt also. Es musste ein Arzt sein. »Wo wird Midazolam noch eingesetzt?«

      Sie dachte einen Moment nach. »Die Substanz ist ziemlich speziell. Intensivstation, Unfall und Notaufnahme, Anästhesie. Das wär’s so ungefähr.«

      »Woher bekommt er es? Krankenhäuser? Bekommt man solche Sachen übers Internet?«

      »Nicht in diesen Mengen.«

      Thorne wusste, dass er mit jedem Krankenhaus im Land Kontakt wegen des Diebstahls von Midazolam aufnehmen musste. Er war sich nicht sicher, wie weit er zurückgehen müsste. Ein halbes Jahr?

      Zwei Jahre? Er würde übervorsichtig sein müssen. Ach ja, außerdem würde Holland die Überstunden gut gebrauchen können.

      Coburn öffnete die Tür zu Alisons Zimmer.

      »Kann sie uns hören?«, fragte Thorne.

      Sie strich Alison das Haar aus dem Gesicht und lächelte ihn an. »Nun, wenn sie es nicht kann, liegt es nicht an ihrem Gehör.«

      Thorne spürte, wie er rot wurde. Warum flüstern Menschen immer an Krankenbetten?

      »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Die ersten Anzeichen sind gut. Sie blinzelt bei plötzlichen Geräuschen, aber es müssen noch weitere Tests durchgeführt werden. Auf jeden Fall rede ich mit ihr. Sie weiß bereits, welcher Krankenhausarzt ein Alkoholiker ist und welcher Arzt es mit drei von seinen Studentinnen treibt.«

      Thorne hob fragend eine Augenbraue. Coburn lehnte sich zurück und griff nach Alisons Hand.

      »Tut mir Leid, Detective Inspector — Frauengespräche!«

      Thorne konnte kaum etwas anderes tun, als sie inmitten des Wusts von Drähten und Geräten anzuschauen. Drähte und Geräte, die an eine junge Frau angeschlossen waren. Er lauschte dem Zischen von Alisons Beatmungsmaschine und dachte an den einen Arzt da draußen, der definitiv auf der Liste der Verdächtigen stand.

      Er setzte sich in die U-Bahn und überlegte, wie lange dieser Geschäftsmann ihm gegenüber noch zu leben hatte. Es war ein Spiel, das ihm wahnsinnigen Spaß machte.

      Es war ein herrlicher Moment gewesen, als Thorne ihn am Tag zuvor direkt angeblickt hatte. Länger als eine halbe Sekunde war es nicht gewesen, als er wie alle anderen mit hochgezogener Kapuze an ihm vorbeigegangen war, doch es war eine hübsche Zugabe gewesen. Das Gesicht des Polizisten hatte ihm gesagt, dass er seine Nachricht verstanden hatte. Jetzt konnte er sich entspannen und sich darauf freuen, was getan werden musste. Er würde sich in die Badewanne


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