Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
dachte, Sie arbeiten viel zu viel, um Zeit zum Fernsehen zu haben.«
Sie zog genüsslich an ihrer Zigarette und lächelte.
Thorne sprach langsam und grinste, als er ihre Frage beantwortete. »Ich hebe mehr als einen ... «
»Ich bin froh, das zu hören.«
»Aber das wär´s dann schon, was die Klischees angeht. Ich bin nicht religiös, ich hasse Opern, und ich schaffe es ums Verrecken nicht, ein Kreuzworträtsel zu lösen.«
»Dann müssen Sie sich getrieben fühlen, oder gejagt. Ist das das richtige Wort?«
Thorne bemühte sich, sein Grinsen beizubehalten, als er sich zur Theke umdrehte. Als er den Blick der Frau an der Kasse auf sich gezogen hatte, hielt er seine Kaffeetasse hoch, um eine weitere zu bestellen. Er drehte sich in dem Moment zurück, als Anne ihre Zigarette ausdrückte. Sie stieß den Rauch aus und ließ ihre eleganten Finger durch ihr silbergraues Haar gleiten.
»Und gehören zu »verheerend« und »trübe« auch Kinder?«
»Nein. Bei Ihnen?«
Ihr breites Lächeln war ansteckend wie die Pocken. »Eins. Rachel. Sechzehn und schwierig.«
Sechzehn? Thorne hob die Augenbrauen. »Sind Frauen immer noch beleidigt, wenn man sie nach ihrem Alter fragt?«
Sie knallte den Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn in die Hand und tat ihr Bestes, um ernst zu wirken. »Diese hier ist es jedenfalls.«
»Tut mir Leid.« Nun tat er sein Bestes, um zerknirscht zu wirken. »Wie viel wiegen Sie?«
Sie lachte laut auf. Nicht dreckig, eher schon wollüstig. Auch Thorne lachte und grinste die Kellnerin an, als diese die zweite Tasse Kaffee brachte. Sie hatte kaum die Tischplatte berührt, als Annes Piepser losging. Sie blickte darauf, erhob sich und griff nach ihrer Tasche auf dem Boden. »Vielleicht bin ich nicht drogensüchtig, aber ich schlucke eine Menge Magentabletten.«
Thorne nahm seine Jacke von der Stuhllehne. »Ich bringe Sie zurück.«
Auf dem Weg zum Queen Square wurde die Stimmung wieder seltsam formell. Das beinahe unbeschwerte Geplapper über den bevorstehenden Herbst machte einer unangenehmen Stille Platz. Vor Annes Büro blieb Thorne zögernd an der Türschwelle stehen. Er hatte das Gefühl, dass er eigentlich gehen müsste, doch sie hielt ihre Hand nach oben, um ihn aufzuhalten, während sie rasch telefonierte. Der Ruf mit dem Piepser war nicht dringend gewesen.
»Wie geht es mit den Untersuchungen voran?«
Thorne trat ins Büro und schloss die Tür. Er hatte vorgehabt, das Thema beim Essen zu besprechen, war dann aber an anderem mehr interessiert gewesen.
»Die Aussichten sind ... eher trübe.«
Sie lächelte.
»Jeden Tag gibt es in der Zeitung irgendeine dumme Geschichte über Einbrecher, die in der Wohnung einschlafen, in die sie eingebrochen sind, doch Tatsache ist, dass die meisten Menschen, die das Gesetz brechen, ernsthaft glauben, sie würden nicht geschnappt werden. Bei Mördern hat man eine Chance, wenn das eigene Zuhause oder Sex im Spiel ist.«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und trank einen Schluck Wasser.
Thorne beobachtete sie. »Entschuldigung, ich wollte keinen Vortrag halten.«
»Nein, das interessiert mich, wirklich.«
»Jede Art von sexueller Obsession kann dazu führen, dass die Leute nachlässig werden. Sie lassen es darauf ankommen und machen Fehler. Bei unserem Freund sehe ich nicht, dass er einen Fehler macht. Was ihn auch antreiben mag, es ist nicht sexuell motiviert.«
Ihr Blick wurde plötzlich kalt und leer. »Tatsächlich?«
»Nicht körperlich. Er ist pervers ... aber er ist —«
»Was er macht, ist grotesk.«
An der Aussage war etwas Endgültiges, gegen das Thorne nichts einwenden konnte. Was ihn betroffen machte, war, dass sie die Gegenwartsform verwendet hatte. Es gab Leute, die dachten oder hofften — und bei Gott, er hoffte es —, dass vielleicht keine neuen Bilder an die Wand gehängt werden mussten. Aber er wusste es besser. Welcher Mission dieser Mann auch immer meinte folgen zu müssen, was auch immer er zu erreichen hoffte, Tatsache war, dass er Frauen verfolgte und sie in ihren Wohnungen umbrachte. Und er hatte Spaß daran. Thorne spürte, wie er rot wurde.
»In diesem Fall gibt es kein herkömmliches Muster. Das Alter der Opfer scheint für den Mörder unwichtig zu sein, Hauptsache, sie sind verfügbar. Er sucht sich irgendwelche Frauen aus, und wenn er nicht kriegt, was er will, lässt er sie einfach liegen. Gewaschen und geschrubbt, zusammengesunken auf einem Stuhl oder flach ausgestreckt auf dem Küchenboden, bis sie von ihren Angehörigen gefunden werden. Niemand sieht etwas. Niemand weiß etwas.«
»Außer Alison.«
Unangenehme Stille senkte sich über das kleine Büro, was die Luft irgendwie noch stickiger machte. Als sein Mobiltelefon klingelte, fühlte sich Thorne nicht wie üblich gestört. Dankbar griff er danach. Detective Inspector Nick Tughan leitete das Backhand-Büro. Tughan konnte gut organisieren und Informationen ordnen — noch einer, der auf Vorschriften stand. Mit seinem weichen Dubliner Akzent war er in der Lage, Vorgesetzte zu beruhigen oder zu überzeugen. Anders als Frank Keable hatte Tughan jedoch das aufgeblasene Selbstbewusstsein eines Herkules und wenig Zeit für Leute wie Tom Thorne. Der bisherige Erfolg der Sonderkommission war in der Hauptsache ihm und seiner unerschütterlichen Effizienz zu verdanken. Nie verlor er die Beherrschung.
»Es gab einen größeren Midazolam-Diebstahl. Vor zwei Jahren im Leicester Royal Infirmary. Fünf Gramm wurden entwendet.«
Thorne griff über den Schreibtisch nach einem Stück Papier und einem Stift. Anne schob ihm den Block zu, und er schrieb sich die Einzelheiten auf. Vielleicht hatte sich der Kerl doch einen Ausrutscher geleistet.
»Gut, schicken wir Holland nach Leicester, um weitere Einzelheiten herauszubekommen. Wir brauchen auch eine Liste von allen, die, sagen wir, seit 1997 dort gearbeitet haben.«
»Seit 1996. Schon aussortiert. Wurde durchgefaxt.«
Tughan war mal wieder einen Schritt voraus und schien es zu genießen. »Nächste Frage ist klar: Gibt es Treffer?«
»Ein paar im Südwesten und ein halbes Dutzend in London. Einer davon ist interessant. Arbeitet im Royal London.«
»Interessant« war das richtige Wort. Anne Coburn hatte es gleich erkannt. Vorausgesetzt, Alison war bei sich zu Hause überfallen worden — warum war sie dann ins Royal London gebracht worden? Warum nicht ins nächstgelegene Krankenhaus? Thorne notierte sich den Namen, ließ die obligatorischen und widerlich jovialen Anweisungen über sich ergehen und drückte die Aus-Taste.
»Hat sich wie eine gute Nachricht angehört.« Sie entschuldigte sich nicht dafür, dass sie mitgehört hatte.
Thorne fand sie immer sympathischer. Er erhob sich und griff nach seiner Jacke. »Hoffen wir’s. Fünf Gramm Midazolam — ist das viel?«
»Das ist verdammt viel. Wir verwenden höchstens fünf Milligramm, um einen Erwachsenen zu sedieren. Intravenös, natürlich.«
Auch Anne Coburn erhob sich, um Thorne hinauszubegleiten. Als sie zur Tür ging, warf sie einen Blick auf den Zettel, den Thorne noch nicht an sich genommen hatte, und blieb abrupt stehen.
»O Gott!«, sagte sie und griff im gleichen Moment nach dem Zettel wie Thorne. Er hätte dafür sorgen müssen, dass sie nicht zu Gesicht bekam, was darauf stand, doch eine Rauferei wäre ... ungehörig gewesen. Er öffnete die Tür.
»Ist dieser Mann Ihr ... Treffer, Detective Inspector?« Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.
»Es tut mir Leid, Mrs. Coburn, ich bin sicher, Sie verstehen das. Ich kann wirklich nicht ... «
»Ich kenne ihn«, sagte sie. »Und zwar sehr gut.«
Thorne