Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
Zugang zu Queens Wood bildeten, dem Stück Grünfläche, das die Archway Road säumte. Beim Gehen sah er die Scheinwerfer durch die Bäume hindurchschimmern, er sah, wie sich die forensischen Spezialisten in ihren weißen Kunststoffanzügen über etwas beugten, das die Leiche zu sein schien, und in der Kleidung des Mädchens nach Fasern oder Haaren suchten. Er hörte, wie Befehle gebellt wurden, er hörte das Zischen von Blitzlichtern und das konstante Dröhnen des tragbaren Generators. Er war in der Vergangenheit an vielen Tatorten gewesen, an zu vielen, doch hier hatte er den Eindruck, als würde er dem A-Team zuschauen. Eine solche Zielstrebigkeit hatte er bisher nur einmal erlebt.
Kein Pfeifen, kein Galgenhumor und keine Thermosflasche mit Tee.
Erst als Thorne unter dem Geländer hindurchgekrabbelt war und sich die Plastiküberschuhe angezogen hatte, die ihm ein Mitarbeiter der Spurensicherung gegeben hatte, wurde ihm bewusst, wie schwer es sein würde, diesen Tatort zu untersuchen. Er sah auch sofort, wie abgebrüht der Mörder bei seiner Wahl des Abladeplatzes gewesen war. Die Leiche lag direkt an dem hohen Metallgeländer, das den ganzen Weg den Hügel hinunter säumte. Auf einer Seite lag die Hauptstraße, auf der anderen ein breiter, dicht bewachsener Streifen Wald an einem steilen Abhang, der zur UBahn-Station Highgate führte. Die Leiche war nur zu erreichen, wenn man den Hügel hinauf-, und zwischen den Bäumen hindurchging. Obwohl bereits eine Art Pfad entstanden war, war es immer noch eine langwierige Angelegenheit, bis zur Leiche zu gelangen. Der Untergrund war hart und trocken, doch es würde nur zehn Minuten dauern, bis er sich in eine matschige Rutschbahn verwandelt hätte. Es lohnte sich nicht, den Tatort mit Kunststoffzelten abzudecken. Er hoffte, sie würden schnell die Hinweise bekommen, die sie brauchten.
Dave Holland rannte ihm auf dem Pfad entgegen, eindrucksvoll von den Scheinwerfern beleuchtet. Thorne konnte die Silhouette des Notizbuchs erkennen, das er in der Luft schwenkte. Er sieht gar nicht aus wie ein Polizist, dachte Thorne, eher wie ein Vertrauensschüler. Trotz der angedeuteten Bartstoppeln provozierten seine blonden Haare und die rötliche Gesichtsfarbe Bemerkungen wie: »Ach, die Polizisten sehen heute ja noch so jung aus.« Rentnerinnen himmelten ihn an. Hollands Vater war bei der Armee gewesen, und Thorne hatte die Erfahrung gemacht, dass dies selten ohne Probleme vonstatten ging. Holland bewegt sich nicht einmal wie ein Polizist, dachte er. Polizisten hüpfen einen Abhang nicht wie eine Bergziege hinunter. Polizisten bewegen sich wie ... Krankenwagen.
»Eine Tasse Tee, Sir?«
Okay, er war vielleicht etwas voreilig gewesen. Es gab immer Tee.
»Nein. Erzählen Sie mir was über den Zeugen.«
»Gut, aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen.«
Thorne stöhnte. Also kein Durchbruch.
»Wir haben eine vage Beschreibung des Täters.«
»Wie vage?«
»Größe, Statur, dunkler Wagen. Der Zeuge, George Harnmond ... «
Und schon wieder dieses verdammte Notizbuch. Am liebsten hätte er es diesem kleinen Mistkerl in den Arsch geschoben.
» ... befand sich oberhalb des Pfads, ungefähr hundert Meter die Hauptstraße hinauf. Er dachte, der Kerl würde einen Müllbeutel rüberschmeißen.«
»Und das war’s? Größe und Statur?«
»Über den Wagen gibt’s noch mehr. Angeblich war es ein »schöner« Wagen. Ein teurer.«
Thorne nickte langsam. Zeugen. Noch so eine Sache, mit der er sich abfinden musste. Selbst die guten lieferten widersprüchliche Berichte über dasselbe Ereignis.
»Mr. Hammond sieht nicht mehr so gut, Sir. Er ist ein alter Mann. Er war mit dem Hund spazieren. Er sitzt jetzt bei uns im Auto.«
»Moment mal, dieses Geländer ist einsachtzig hoch. Wie groß war der Mann nach Meinung des Zeugen?«
»Einsfünfundachtzig, einsneunzig. Das Mädchen ist nicht besonders groß, Sir.«
Thorne blinzelte ins Licht. »Gut, ich werde gleich mit dem optisch überforderten Mr. Hammond reden. Diese Sache werden wir auch noch überstehen.«
Phil Hendricks stand über die Leiche gebeugt, sein Pferdeschwanz steckte unter der grellgelben OP-Haube. Die forensischen Spezialisten hatten ihre Arbeit beendet; nun war Hendricks an der Reihe. Thorne beobachtete den allzu vertrauten Ablauf, bei dem der Pathologe die Temperatur maß und eine oberflächliche Untersuchung durchführte. Etwa jede Minute ging Hendricks in die Hocke und murmelte etwas in sein Diktiergerät. Wie immer wurden sämtliche Details vom Kameramann der Polizei unsterblich gemacht. Thorne wunderte sich stets über diese Leute. Einige von ihnen schienen sich einzubilden, Filmemacher zu sein — einmal hatte Thorne einen Kameramann angeblafft, weil der gerufen hatte: »Ich habe alles im Kasten.« Einige hatten so einen merkwürdigen Glanz in den Augen, als wollten sie sagen: »Du solltest mal zu mir nach Hause kommen und dir das Filmmaterial anschauen, das ich meinen Kumpels an Weihnachten zeige.« Thorne fragte sich, ob sie alle darauf warteten, von einer Fernsehgesellschaft entdeckt zu werden, die scharf auf Pseudodokumentarfilme war. Vielleicht war er zu hart — auch in Bezug auf Holland. Vielleicht waren es einfach die perfekt gebügelten Bundfaltenhosen, die er nicht mochte. Vielleicht war es auch nur, weil Holland als junger Polizist jedem gefallen wollte.
War er nicht selbst so gewesen? Vor fünfzehn Jahren auf seinem Weg ins Unglück?
Hendricks packte seine Instrumente ein und blickte zu Thorne in einer Art auf, wie er es schon bei vielen Gelegenheiten getan hatte. Pathologen waren angeblich kälter als alle anderen, doch trotz der schnoddrigen Art des Mannes, dem Näseln und dem schwarzen Humor wusste Thorne, was Hendricks fühlte. Er hatte oft genug gesehen, wie er in sein Bierglas geweint hatte.
»Er wird langsam leichtsinnig, wenn du mich fragst.« Hendricks spielte an einem seiner vielen Ohrringe. Acht waren es das letzte Mal, als Thorne sie gezählt hatte. Die dicken Brillengläser verliehen ihm etwas Gelehrtenhaftes, doch die Ohrringe, Tätowierungen und der Hang zu extravaganter Kopfbedeckung stuften ihn, gelinde gesagt, als unkonventionell ein. Thorne kannte den geselligen GruftiePathologen, der zehn Jahre jünger und außerordentlich tüchtig war, seit fünf Jahren. Thorne mochte ihn sehr.
»Ich frag dich nicht, aber danke für die Untersuchung.«
»Kein Wunder, dass du empfindlich reagierst, Kumpel. Zwei zu eins verloren im Heimspiel gegen Bradford?«
»Wurden richtig vorgeführt.«
»Klar!«
Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den dunklen Nachthimmel hinauf, wo er den Großen Wagen erkannte. Er suchte immer nach ihm — es war die einzige Konstellation, die er vom Sehen her kannte. »Dann war er es also?«
»Bis zum Morgen weiß ich das sicher. Ich denke ja. Aber was macht sie hier? Das ist doch eine ziemlich belebte Straße. Man hätte ihn leicht sehen können.«
»Das wurde er auch. Leider nur von einer Blindschleiche. Allerdings glaube ich nicht, dass er sich lange hier aufgehalten hat.«
Hendricks trat zur Seite, sodass sich Thorne die Frau anschauen konnte, die in wenigen Stunden als Helen Theresa Doyle identifiziert werden würde. Sie war noch sehr jung, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Ihre Bluse war hochgerutscht und enthüllte einen gepiercten Bauchnabel. Sie trug große runde Ohrringe, und unter ihrem zerrissenen Rock zeigte sich am Beinansatz eine hässliche Wunde.
Hendricks schloss seine Tasche. »Ich glaube, die Wunde hat sie sich zugezogen, als der Mistkerl sie übers Geländer geworfen hat.«
Plötzlich nahm Thorne aus dem Augenwinkel etwas wahr, und er drehte den Kopf nach rechts. Ein paar Meter entfernt stand ein Fuchs. Ein Weibchen, vermutete er. Völlig reglos stand das Tier da und beobachtete das seltsame Geschehen. Die Menschen hielten sich in ihrem Revier auf. Thorne empfand einen plötzlichen Schmerz. Er hatte Bauern und Jäger darüber schimpfen gehört, mit welcher Grausamkeit diese Tiere beim Töten vorgingen, doch er bezweifelte, dass ein Wesen, das tötete, um sich und seine Nachkommen zu ernähren, dies mit Freuden tat. Oberhalb des Abhangs rief jemand. Der Fuchs wollte schon losspringen, entspannte sich aber wieder.