Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham

Der Kuss des Sandmanns - Mark  Billingham


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Sie wollten reden. Und mehr. Und er war sehr überzeugend. Susan und Alison hatten ihn beinahe sofort hereingebeten und sich in Vergessenheit getrunken. Sprichwörtlich. Der Champagner war eine geniale Idee. Er hatte zuerst an eine Spritze gedacht, aber das wäre ein Chaos geworden, und er wollte keinen Kampf. Die Wartezeit war beim Champagner natürlich etwas länger, aber ihm gefiel es, wenn sie langsam wegsackten. Er genoss es schon im Voraus, wie dehnbar sie gleich sein würden. Die andere — er hatte nicht einmal Zeit gehabt, ihren Namen herauszufinden — hatte das Zeug förmlich hintergestürzt. Aber dann hatte er gehen müssen, weil er das mit der zeitlichen Abstimmung nicht auf die Reihe bekommen hatte. Aber er war sicher, dass sie nichts über den Vorfall erzählt hatte. Es wäre bestimmt schwer für sie gewesen, ihrem Mann, ihrem Freund oder ihrer Freundin zu erklären, warum sie so fertig war. Mit Sicherheit hätte sie nicht erwähnt, dass sie einen Fremden in die Wohnung gelassen hatte.

      Es war eine Erleichterung gewesen, mit Helen bei sich zu Hause zu arbeiten. Er hatte es gehasst, ihnen etwas vorzumachen und in diese trostlosen Wohnungen zu schleichen. Es war ihm zuwider gewesen, die Seifenstücke und Pillendosen in diesen kleinen, schmierigen Badezimmern zu lassen. Aufgerollte Strumpfhosen und Klopapier in der Toilettenschüssel. Er hasste es, sie anzufassen. Am Kopf. Auch durch die Handschuhe hindurch spürte er den Dreck und das Fett in ihren Haaren. Er hätte schwören können, dass er sogar spürte, wie sich etwas ... bewegte. Doch nun konnte er in einer sauberen, bequemen Umgebung arbeiten. Jetzt wusste er, dass sie wussten, dass er wusste, dass ...

      Er pfiff eine erfundene Melodie, während er versuchte wach zu bleiben. Thorne war nicht der Einzige, der die Anstrengungen spürte. Er brauchte noch einen Kaffee. Einen Augenblick lang schloss er die Augen und dachte an Alison. Sie hatte ihn nicht im Stich gelassen. Sie wollte leben. Er dachte darüber nach, sie noch einmal zu besuchen, doch vielleicht war das ein wenig riskant. Die Sicherheitsvorkehrungen im Krankenhaus waren ziemlich verschärft worden. Die Überschwemmung war eine geniale Idee gewesen, die er aber nur einmal umsetzen konnte. Langsam verschwammen seine Gedanken. Ja, er musste sich etwas anderes ausdenken, wenn er Alison ein zweites Mal besuchen wollte, ohne erwischt zu werden.

      Ohne auf Anne Coburn zu stoßen.

      »Haben Sie Schmerzen, Alison?« Dr. Anne Coburn und Steve Clark blickten aufmerksam in das blasse, friedliche Gesicht. Sie erhielten keine Reaktion. Anne versuchte es erneut. »Blinzeln Sie einmal für Ja, Alison.« Nach einem kurzen Moment bemerkten sie eine winzige Bewegung — ein angedeutetes Zucken um Alisons linkes Auge. Anne schaute hinüber zu dem Beschäftigungstherapeuten, der sich Notizen auf seinem Klemmbrett machte und ihr zunickte. Sie fuhr fort. »Ja, Sie haben Schmerzen? War das ein Ja, Alison?« Nichts. »Alison?« Steve Clark legte seinen Stift zur Seite. Alisons linkes Augenlid flatterte dreimal schnell hintereinander. »Gut, Alison.«

      »Vielleicht ist sie einfach nur müde, Anne. Ich bin sicher, dass Sie Recht haben. Es kommt nur darauf an, dass sie genügend Kontrolle über sich erhält.«

      Anne Coburn arbeitete oft mit Steve Clark zusammen, ein hervorragender Therapeut und netter Mann, aber er konnte nicht besonders gut lügen. Er war ganz und gar nicht überzeugt. Aber Anne Coburn war es. »Ich komme mir vor wie jemand, der den Fernsehmonteur geholt hat, und dann ist nichts kaputt, nur andersrum ... oh, Mist, Sie wissen, was ich meine, Steve.«

      »Ich glaube einfach, dass Sie etwas zu voreilig sind.«

      »Ich folge nur zuverlässigen Richtlinien, Steve. Das Elektroenzephalogramm zeigt normale Gehirnaktivität.«

      »Niemand bestreitet das, aber das heißt doch nicht, dass sie fähig ist zu kommunizieren. Ich stimme zu, dass sie ihr Lid bewegt hat, aber ich habe nichts gesehen, was mich überzeugt, dass es gewollt war.«

      »Aber ich stehe damit doch nicht allein, Steve. Sie können mit dem Pflegepersonal sprechen. Ich bin sicher, sie ist bereit zu kommunizieren.«

      »Sie könnte bereit sein —«

      »Und fähig dazu. Ich habe es gesehen. Sie hat mir gezeigt, dass sie Schmerzen hat, dass sie müde war. Sie grüßt mich, Steve.«

      Clark öffnete die Tür. »Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl unter diesem Druck, etwas vorführen zu müssen — wie im Theater.«

      Später, wenn sie sich beruhigt haben würde, würde sie merken, dass er einfach nur Anteilnahme zeigen wollte. Doch im Moment war sie wütend und frustriert — wegen sich selbst und wegen Alison. »Weder ist sie jemand, der anderen etwas vorführen will, noch hat das etwas mit Theater zu tun.«

      Als Holland mit dem offenen Rover in die ruhige, von Bäumen gesäumte Straße in Battersea einbog, überfuhr er die heimtückische Schwelle gerade so schnell, dass der Wagen mit der Unterseite aufsetzte und sein Chef auf rüde Weise geweckt wurde.

      »Jesus, Holland ... «

      »Tut mir Leid, Sir ... «

      »Ich weiß, dass es nur ein Dienstwagen ist, aber ich muss doch sehr bitten!«

      Die Sonne blendete, und Thorne spürte jede einzelne der achtundzwanzig Stunden, die er seit dem Aufwachen hinter sich gebracht hatte. Holland hielt sogar die Wagentür für ihn auf! Thorne spürte, dass er dies nicht so sehr aus Achtung vor seinem Vorgesetzten tat, sondern weil sich die fünfzehn Jahre Altersunterschied langsam bemerkbar machten.

      Jeremy Bishop wohnte in einem vornehmen dreistöckigen Haus mit einem kleinen, aber gepflegten Vorgarten. Vermutlich vier Schlafzimmer. Vermutlich geschmackvoll eingerichtet, dachte Thorne, und voll gestopft mit dem, was Immobilienmakler als »Stilmöbel« bezeichnen würden. Vermutlich läppische fünfhunderttausend Pfund wert. Und auf dem Parkplatz davor ein hübscher Volvo. Offenbar hatte Bishop zumindest keine Geldsorgen.

      Holland drückte auf die Klingel, während Thorne zu den Fenstern hinaufblickte. Die Vorhänge waren zugezogen. Nach ungefähr einer Minute wurde die Tür geöffnet. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, wurden sie von dem verschlafen wirkenden Jeremy Bishop hereingebeten.

      Während Holland mit seinem Notizbuch bereitstand, ließ sich Thorne in einen Sessel fallen, sagte dankbar Ja zu einer Tasse Kaffee und zermarterte sich das Gehirn, warum ihm Jeremy Bishop so vertraut vorkam. Er war, wie Thorne vermutete, Mitte bis Ende vierzig und sah trotz der Bartstoppeln und der Ringe unter den Augen zehn Jahre jünger aus. Er war groß, mindestens einsachtundachtzig, und er erinnerte Thorne an Dr. Richard Kimble, der in Auf der Flucht von Harrison Ford gespielt wurde. Sein kurzes Haar war schon ziemlich grau, doch zusammen mit der schicken Brille diente es nur dazu, ihn »vornehm« aussehen zu lassen. Thorne war konsterniert — seine eigenen grauen Haare machten ihn einfach nur »alt«. Zweifellos spielte Bishop in der Fantasie der Schwesternschülerinnen regelmäßig eine große Rolle — »Aber Herr Doktor, hier im Desinfektionsraum? « Er dachte an Anne Coburn, versuchte aber, das Bild zu vermeiden, wie sie sich im Waschraum auszog. Waren Ärztinnen eigentlich nicht immer hässlich? Er erinnerte sich an die widerliche Krankenhausärztin, zu der er als Kind gezerrt worden war, ein altes Weib mit Männerhaarschnitt und Schnurrbart, die nach Käse gerochen und immer eine Craven A im Mundwinkel hängen hatte, wenn sie mit osteuropäischem Akzent unverständliches Zeug vor sich hin brummelte. Bei Jeremy Bishop bestand diesbezüglich keine Gefahr. Seine wohlklingende Stimme würde einen durchdrehenden Epileptiker in null Komma nichts beruhigen.

      »Ich nehme an, Sie kommen wegen Alison Willetts«, sagte er.

      Holland blickte zu Thorne, der an seinem Kaffee nippte. Sollte doch der Constable die Sache in die Hand nehmen.

      »Und warum nehmen Sie das an, Sir?«

      Thorne blickte Holland durch die Dampfwolke an, die seiner Kaffeetasse entstieg. Netter Anfang: Sarkasmus, Dominanz und ein Anflug von Aggression. Ermöglicht dem Gegenüber, sich gleich wohl zu fühlen.

      Bishop ließ das kalt. »Alison Willetts wurde überfallen und schwer verletzt. Ich habe sie behandelt, und man schickt doch keine Detective Inspectors vorbei, wenn man seine Strafzettel wegen Falschparkens nicht bezahlt hat.« Er lächelte Holland zu, der daraufhin zum zweiten Punkt seiner selbst gebastelten Anleitung für Verhöre überging.

      »Wir ermitteln in einem sehr ernsten Fall, der —«


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