Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
könnte es schaffen, dachte er, sie hat einen so starken Lebenswillen.
Eine Minute fünfundvierzig Sekunden. Seine Finger blieben in Position, als er sich vorbeugte. »Gute Nacht, Schlafmütze, jetzt kommt der Sandmann ... «
Sie hörte auf zu atmen.
Dies war der kritische Moment. Seine Bewegungen mussten schnell und genau sein. Er lockerte den Druck auf der Halsschlagader und schob ihren Kopf heftig nach vorn, bis ihr Kinn die Brust berührte. In dieser Position ließ er ihn eine Weile, bis er ihn ganz nach hinten drückte, sodass er ihr ins Gesicht blicken konnte. Ihre Augen waren geöffnet, ihr Mund hing schlaff nach unten, Speichel lief an ihrem Kinn hinunter. Er widerstand dem Drang, sie zu küssen, und hielt ihren Kopf aufrecht, in einer neutralen Position. Dann krallte er seine Finger in ihr langes braunes Haar und drehte den Kopf nach hinten über die linke Schulter.
Dort hielt er ihn einen Moment. Dann über die rechte Schulter. Mit jeder Drehung riss er innen die Wirbelarterie entzwei. Jetzt war sie an der Reihe.
Vorsichtig legte er sie auf den Boden in die Stabile Seitenlage. Er schwitzte heftig, griff nach einem Glas Wasser und setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete sie. Um darauf zu warten, dass sie anfing zu atmen.
Sein Kopf war leer, während er sich, ohne zu blinzeln, auf ihr Gesicht und ihren Brustkorb konzentrierte. Der Atem würde kurz und flach sein, er beobachtete sie genau, um auch die leiseste Bewegung mitzubekommen. Alle paar Sekunden beugte er sich vor und tastete nach ihrem Puls.
Helens Körper bewegte sich nicht.
Er griff nach dem Beutel und der Maske. Es war Zeit, einzuschreiten. Zehn Minuten hektisches Drücken und lautes Rufen. »Los, Helen, hilf mir! Du musst stark sein!«
Sie war nicht stark genug.
Außer Atem ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen und blickte hinunter auf den leblosen Körper. Ein Knopf fehlte an ihrer Bluse. Sein Blick wanderte zu den schwarzen Schuhen, die neben ihr standen, zu dem Häufchen Schmuck in einer Schale aus rostfreiem Stahl — billige Armbänder und hässliche Ohrringe.
Er betrauerte sie, und er hasste sie.
Er musste sich beeilen. Jetzt ging es darum, sie zu entsorgen. Schnell und problemlos.
Er begann, sie auszuziehen.
Thorne griff zu der Flasche Rotwein neben seinem Sessel und schenkte sich noch ein Glas ein. Vielleicht waren vierzigjährige Männer besser dran, wenn sie alleine waren, alleine in ihren hübschen, gemütlichen, aber kleinen Wohnungen. Vierzigjährige Männer mit schlechten Angewohnheiten, Stimmungsschwankungen und einer Vorliebe für Country-Music.
Johnny sang über Erinnerungen. Thorne machte sich eine gedankliche Notiz, um den CD-Spieler das nächste Mal so zu programmieren, dass dieses Lied übersprungen wurde. Der Calvert-Fall — war er wirklich abgeschlossen?
»Man nehme eine frische, zarte Leiche ... «
Fünfzehn Jahre waren zu lang, um dieses Gepäck noch mit sich herumzuschleppen. Außerdem war es nicht seins. Er erinnerte sich daran, wie es ihm aufgebürdet worden war. Er war erst fünfundzwanzig gewesen. Diejenigen, die weit über ihm standen, hatten ihm entsprechend ihrer Position die Drecksarbeit zugeschoben. Nie hatte er die Möglichkeit gehabt, den anständigen Weg zu gehen, um aus der Sache herauszukommen. Hätte er es denn überhaupt getan?
» ... einen Strafentlassenen ... «
Er hatte kein Mitspracherecht gehabt, als es darum gegangen war, Calvert nach dem Verhör, dem vierten Verhör, gehen zu lassen. Über das, was auf diesem Flur und später in dem Haus geschehen war, schien er wie jeder andere auch irgendwo gelesen zu haben. Hatte er wirklich das Gefühl gehabt, dass Calvert der Richtige war? Oder war dies eine Einzelheit gewesen, die er später dazugedichtet hatte, im Licht dessen, was er an jenem Montagmorgen gesehen hatte? Sobald die Dinge nach und nach ans Tageslicht kamen, war sein Anteil am Fall ohnehin vergessen worden.
» ... vier tote Mädchen ... «
Wo lag denn abgesehen davon sein Trauma — du meine Güte, was für ein Wort —, verglichen mit diesen kleinen Mädchen, die heute immer noch umherlaufen könnten? Die heute schon eigene Kinder haben könnten?
»Memories are made of this.«
Er richtete die Fernbedienung auf die Stereoanlage und schaltete das Lied aus. Das Telefon klingelte.
»Tom Thorne.«
»Hier ist Holland, Sir. Wir glauben, wir haben eine weitere Leiche.«
»Ihr glaubt?«
Sein Magen fuhr Karussell. Calvert hatte gelächelt, als er aus dem Verhörzimmer gegangen war. Alison blickte ins Nichts. Die tote Susan, die tote Christine und die tote Madeleine drückten ihm die Daumen.
»Sieht genau gleich aus, Sir. Keinerlei äußere Verletzungen.«
»Die Adresse?«
»Das ist das Komische, Sir. Die Leiche liegt draußen. Im Gebüsch hinter dem Bahnhof von Highgate.«
Zu dieser nächtlichen Stunde nur ein paar Minuten entfernt. Er kippte den Rest Wein in einem Zug hinunter. »Sie schicken mir besser einen Wagen, Holland. Ich habe was getrunken.«
»Und das Beste, Sir ... «
»Das Beste?«
»Wir haben einen Zeugen. Jemand hat gesehen, wie er die Leiche abgeladen hat.«
–––
Ich habe gespürt, dass Tim unbedingt wissen wollte, von wem die Blumen waren. Er sagte nichts, aber ich wusste, dass er sie angesehen hat. Er hat mich nicht gefragt. Vielleicht weil es eine Frage war, auf die er wirklich eine Antwort wollte — und nicht nur ein sinnloses Gespräch mit einer Exfreundin, die jetzt eine zurückgebliebene Idiotin ist.
Tut mir Leid, Tim. Aber es gibt nichts, womit du dich auf so etwas hättest vorbereiten können. Ich meine, wenn man diesen üblichen Kram mitmacht, gemeinsame Ferien, die Freunde des anderen kennen lernen. Er brauchte sich nie mit meinen Eltern abzugeben, der Glückspilz. Seine waren ein Albtraum! Aber das war nie das Thema gewesen, oder! »Wie würdest du damit zurechtkommen, wenn ich an einer lebenserhaltenden Maschine hängen würde und völlig bewegungs- oder kommunikationsunfähig wäre!« Darüber redet man doch nicht, wenn man gerade anfängt, sich besser kennen zu lernen.
Ach ja, ich habe eine Luftmatratze bekommen, damit ich keine Druckstellen kriege. Das ist wirklich tierisch bequem. Macht allerdings einen ordentlichen Krach.
Manchmal wache ich nachts im Dunkeln auf und denke, dass jemand nebenan eine mitternächtliche Staubsaugerparty veranstaltet.
Anne ist scharf auf diesen Polizisten, denke ich. Er scheint nett zu sein. Netter als ihr Ex jedenfalls, der sich wie ein Arsch anhört. Aber der Polizist ist lustig. Ich hab mir fast in die Hose gemacht, als er sich entschuldigte, weil er »gemüffelt« hat. Ich habe gehört, wie Tim eine der Schwestern nach den Blumen gefragt hat. Es war keine Karte dabei, und die Schwester ist losgezogen und hat eine Kollegin gefragt. Jetzt glaube ich, Tim vermutet, ich hätte eine Affäre mit einem Polizisten. Muss ein ziemlich seltsamer Polizist mit einer Vorliebe für billige gelbe Nachthemden und äußerst folgsame Freundinnen sein, die nie nachhaken.
Wie geht der Witz noch mal von der perfekten Frau! Wenn ich eine Nymphomanin wäre und mein Vater eine Brauerei besitzen würde, hätte er einen Haufen Kohle ...
Vier
Der Sierra blieb hinter dem Krankenwagen stehen. Als Thorne ausstieg, wusste er, dass die Sache schwierig werden würde. Selbst um zwei Uhr morgens war es noch schwül, doch es würde bald regnen. Wertvolle Beweise würden verloren gehen, wenn sich der Schauplatz in Matsch verwandelte. Die Fotografen, die Polizisten und die Mitglieder des forensischen Teams gingen ihrer Aufgabe mit schweigsamer Effizienz nach. Sie wussten, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Alles, was nützlich war, wurde gewöhnlich innerhalb der ersten Stunde gefunden. Die goldene Stunde.
Tughan würde ohnehin alles abdecken lassen. Er hatte bestimmt