Der Kuss des Sandmanns. Mark Billingham
herschicken musste, um die Aussage aufzunehmen. Er aber wartete, dass sie fortfuhr.
»Ja, er hat in Leicester gearbeitet, aber auf keinen Fall hat er was mit dem Midazolam-Diebstahl zu tun.«
»Mrs. Coburn —«
»Und er hat ein felsenfestes Alibi, was Alison Willetts betrifft.«
Thorne schloss die Tür. Er war ganz Ohr.
»Jeremy Bishop war der Anästhesist, der an dem Abend im Royal London in der Notaufnahme Dienst hatte, als Alison eingeliefert wurde. Er hat sie behandelt. Erinnern Sie sich? Ich sagte Ihnen, dass ich ihn kennen würde. Er erzählte mir von dem Midazolam.«
Thorne blinzelte und schloss einen Moment die Augen. Tote Susan. Tote Christine. Tote Madeleine.
»Komm schon, Tommy, du brauchst doch was, damit es weitergeht.«
Er öffnete die Augen wieder. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte das Datum auf dem Zettel gesehen. »Es tut mir Leid, Detective Inspector, aber so wenig Sie Detective Constable Holland auch leiden können ... «
Thorne öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
» ... es ist reine Zeitverschwendung, ihn nach Leicester zu schicken. Der Mann, nach dem Sie suchen, ist mit Sicherheit clever, aber es gibt keine Garantie, dass er jemals im Leicester Royal Infirmary gearbeitet hat.«
Thorne stellte seine Tasche ab und setzte sich wieder. »Warum fange ich an, mich wie Dr. Watson zu fühlen?«
»Am ersten August ist turnusmäßiger Wechsel im Krankenhaus. Normalerweise würde man annehmen, dass jemand in einem Krankenhaus arbeitet, wenn er dort eine größere Menge Medikamente klaut. Ja, Krankenhausmitarbeiter sind überarbeitet und hin und wieder ineffizient, aber was gefährliche Substanzen angeht, gibt es eindeutige Vorschriften.«
Da war es wieder, Thornes Lieblingswort.
»Aber am Tag des turnusmäßigen Wechsels kann es vorkommen, dass die Dinge ein bisschen lasch gehandhabt werden. Ich habe in Krankenhäusern gearbeitet, aus denen hätte man am ersten August ein Bett oder ein Dialysegerät rausschieben können. Es tut mir Leid, aber wer auch immer dieses Midazolam genommen hat, könnte von überallher gekommen sein.«
Susan. Christine. Madeleine. »Irgendetwas, Tommy. Eine Spur. Irgendwas ... «
Thorne zog sein Telefon heraus, um Tughan anzurufen.
Es war Helen Doyles erste Getränkerunde, doch sofort machte sie sich Sorgen, wie viel sie ausgegeben hatte. Einige Designer-Flaschen und ein paar Cola mit Rum, und schon war dreimal so viel weg, wie sie in einer Stunde verdiente.
Mist! Aber es war Nitas Geburtstag, und sie tat so etwas schließlich nicht jeden Tag.
Sie lud die Getränke auf ein Tablett und blickte in die Ecke, wo ihre Freundinnen saßen. Drei von ihnen kannte sie seit ihrer Schulzeit, die anderen beiden fast ebenso lang. Der Pub war noch leer, und die wenigen Gäste waren vermutlich genervt wegen des Lärms, den die Bande veranstaltete. Wie auf Kommando fingen sie an zu lachen. Jos schrilles Gegacker war am lautesten. Vielleicht hatte Andrea wieder einen ihrer dreckigen Witze erzählt.
Helen ging langsam zum Tisch zurück. Unter den Jubelrufen der anderen stellte sie das Tablett ab. Die Frauen grabschten nach ihren Gläsern, als wäre es das Erste, was sie an diesem Abend bekamen.
»Hast du keine Chips mitgebracht?«
»Vergessen, tut mir Leid ... «
»Wirres Huhn.«
»Erzähl ihr den Witz ... «
»Wie viel Eis hat der Trottel da denn reingetan?«
Helen nahm einen Schluck und betrachtete den Aufkleber auf der Flasche, der nicht enthüllte, was eigentlich darin war. Sie war sich nie wirklich sicher, was oder welchen Alkohol sie trank, aber sie mochte die Farben, und sie kam sich schick vor mit der schlanken, kalten Flasche in ihrer Hand. Nita nippte die Hälfte von ihrem Cola-Rum, Jo leerte den Rest ihres Lagerbiers und rülpste laut.
»Wozu trinkst du das? Das ist doch wie Limo!«
Helen spürte, wie sie rot wurde. »Ich mag den Geschmack.«
»Es soll aber gar nicht gut schmecken, das ist der Punkt.«
Nita und Linzi lachten. Helen zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck. Andrea stupste sie. »Es schmeckt wie ... na, du weißt schon.«
Stöhnen. Jo steckte sich zwei Finger in den Hals. Helen wusste, worüber sie redeten. Sex war so ziemlich das Einzige, worüber Andrea redete.
»Sag uns doch noch mal, wie groß sein Schwanz war, Jo.«
Der Stripper war Andreas Idee gewesen, und Nita schien es zu gefallen. Helen fand, dass er, von oben bis unten eingeölt, gut in Form war, und er hatte dafür gesorgt, dass sie rot wurde. Sie hatte bemerkt, dass er genauso verlegen war wie sie, als ihm Jo in den Schritt gefasst hatte, und eine Sekunde lang hatte er fassungslos ausgesehen. Dann hatte er gelächelt und unter den Pfiffen und dem Gejohle des Publikums seine Sachen vom Boden aufgehoben. Auch Helen hatte gepfiffen und gejohlt, doch ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie etwas besoffener gewesen wäre.
»Groß genug!«, kreischte Jo.
»Mehr als genug!«
Helen beugte sich zu Linzi vor.« Wie läuft’s in der Arbeit?«
Sie war mit Linzi eng befreundet, doch sie hatten den ganzen Abend noch nicht richtig miteinander geredet.
»Beschissen. Wahrscheinlich werde ich das Handtuch schmeißen ... bei irgendeiner Zeitarbeitsfirma arbeiten, oder so.«
»Hast Recht.«
Helen liebte ihre Arbeit. Sie bekam zwar wenig Geld, doch die Kollegen waren nett, und obwohl sie ihren Eltern etwas abgeben musste, war es immer noch billiger, zu Hause zu wohnen. Sie sah keinen Sinn darin, auszuziehen, nicht, bis sie jemanden kennen gelernt hatte. Warum sollte sie eine Bruchbude mieten wie Jo und Nita? Andrea wohnte übrigens auch noch zu Hause. Weiß Gott, woher sie die vielen Gelegenheiten zum Sex hatte, über die sie immer sprach ...
»Let Me Entertain You« dröhnte aus der Jukebox — eins ihrer Lieblingslieder. Sie bewegte den Kopf zum Rhythmus der Musik und sang den Text leise mit. Sie erinnerte sich an eine Schüler-Disko und an einen Jungen mit Ohrring, traurigen braunen Augen und einem nach Cidre riechenden Atem. Als der Refrain kam, fielen die anderen Mädchen mit ein, und Helen schwieg.
Der Barmann läutete die letzte Bestellung ein und rief etwas Unverständliches. Andrea und Jo waren ganz scharf auf eine letzte Runde. Helen grinste, obwohl sie eigentlich nach Hause wollte. Es würde ihr am nächsten Morgen schlecht gehen, und ihr Vater würde noch auf sein, um auf sie zu warten. Ihr war bereits ein wenig schwindlig. Sie wäre vor ihrer Verabredung besser erst nach Hause gegangen, um ihren Tee zu trinken und sich umzuziehen. Sie kam sich in ihrem schwarzen Rock und der anständigen Bluse wie eine verklemmte alte Schachtel vor. Auf dem Heimweg würde sie eine Tüte Chips und ein Stück Fisch für ihren Vater kaufen.
Andrea erhob sich und verkündete, dass sie noch eine letzte Runde bestellen würde. Helen jubelte ebenso wie die anderen, trank die Flasche leer und kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Münzen.
Thorne hörte mit geschlossenen Augen Johnny Cash, drehte den Kopf und ließ genüsslich seine Halswirbel knacken. Der Sänger mit der tiefen Stimme betonte gerade, er werde aus seinem verrosteten Käfig ausbrechen. Thorne öffnete die Augen und blickte sich in seiner gemütlichen Wohnung um — die eigentlich kein Käfig war. Doch er wusste, wovon Johnny sprach.
Die Zweizimmerwohnung war klein, aber leicht in Ordnung zu halten. Außerdem lag sie nahe genug an der belebten Kentish Town Road, sodass er sicher sein konnte, dass ihm niemals der Tee oder die Milch ausging. Oder der Wein.
Das Paar im Stockwerk über ihm war ruhig und belästigte ihn nie. Keine sechs Monate wohnte er jetzt hier, seit er das Haus in Hyghbury schließlich verkauft hatte, doch er kannte schon jeden Zentimeter der