Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft. Anand Buchwald
Doch ist der derzeitige und durchaus noch nicht gefestigte Stand der Dinge allenfalls einer der ersten vorbereitenden Schritte zu einer wirklichen sexuellen Befreiung, vor allem in den Industrieländern. Unser Verhalten und unsere Einstellung mögen vielleicht, wenn man nicht genau hinsieht, den Eindruck von sexueller Freiheit erwecken, sind aber geprägt vom Verbergen und vom Gefühl, den gesellschaftlichen Standards nicht wirklich zu entsprechen. Eine gelungene Enttabuisierung erkennt man daran, dass kein Bewusstsein von Tabus mehr besteht, dass Sexualität so selbstverständlich geworden ist, wie etwa die Nahrungsaufnahme, und dass man darüber mit der gleichen Selbstverständlichkeit reden kann, dass die Frage nach dem Geschlecht des Partners keine Wertung mehr beinhaltet, dass man sich nicht mehr schmerzvoll, sondern freudig und unvoreingenommen auf die Entdeckungsreise in die Welt der eigenen Sexualität begibt, weil alles möglich, alles normal und alles in Ordnung ist, dass man angstfrei spielen und experimentieren kann, und dass man Beziehungen individuell und frei gestalten kann, was Menge, Art und Intensität der Zuneigung und ihres Ausdrucks und auch die Zahl der Partner betrifft. Die Uniformität in den Erwartungen an Beziehungen und in ihrem Ausdruck schwindet und macht einer ungezwungenen Vielfalt Platz, in der alles möglich ist. Und man erkennt eine enttabuisierte Gesellschaft auch daran, dass man für alle möglichen Ergebnisse, für alle Charakterkonstellationen, die auch dann nie in Stein gemeißelt sind, sondern nur Momentaufnahmen darstellen, ein Vorbild im realen Leben wie auch in der Welt der Medien findet. Doch davon sind wir noch weit entfernt, und wir müssen uns deswegen noch mit allen möglichen Einschränkungen, Sonderbehandlungen, Repressalien und, bei Abweichungen von der „Norm“, sogar mit der Angst um unser Leben herumschlagen – kurz gesagt: Wir sind nicht frei.
Aber hat diese Unfreiheit deshalb auch gleich Auswirkungen auf unsere globale Zukunft? Schließlich betrifft sie ja nur unser Privatleben und nicht die große Weltpolitik. Doch wie aus der Chaos-Theorie bekannt ist, können kleine Ursachen sehr große Auswirkungen haben; und die Sexualität ist keine kleine Ursache, sie ist eine Urgewalt. Die Kriege und Streitigkeiten, die direkt oder indirekt in der Sexualität, in Beziehungs- und Partnerschaftsproblemen und in Anspruchs- und Wunschdenken ihren Ursprung haben, beschränken sich nicht auf griechische Göttersagen oder auf den Fall von Troja – ihre Anzahl ist Legion.
Die Sexualität beherrscht unser Denken, unsere Empfindungswelt und vor allem unser Unterbewusstes in nicht zu kleinem, wenn auch individuell deutlich unterschiedlichem Ausmaß. Ob wir guten Sex hatten, schlechten Sex, gar keinen Sex, ob er uns unerfüllt zurücklässt oder das Gefühl hervorruft, die Welt umarmen zu wollen, ob wir manche Wünsche nicht zum Ausdruck bringen können oder uns beim Sex innerlich verbiegen müssen, ob Sex Ausdruck von Liebe, Freundschaft, Lust, Verlangen, Machtstreben, Unterwerfung, Manipulation, Gefälligkeit, Potenzgehabe, Pflichterfüllung, Wettstreit, Selbstbehauptung, Selbsttäuschung, Ablenkung oder sonst etwas ist, hat Auswirkungen auf unser tägliches Wohlbefinden, auf unser Selbstwertgefühl, auf die Wahrnehmung anderer Menschen, auf unsere Konzentration und Einsatzfähigkeit und -bereitschaft, auf den Grad unserer Frustration oder Zufriedenheit u.v.m. und damit auch auf die Interaktion mit unserer Umwelt.
Sind wir freudig erfüllt, so neigen wir dazu, auf die Welt zuzugehen, positiv zu denken, wohlwollend und offen zu sein, das Gute im Menschen zu sehen, unterstützend tätig zu werden und zukunftsorientiert zu handeln. Wir haben gute Laune und stecken Andere mit dieser an, so dass in unserer Umgebung der Geist der Zusammenarbeit, der Liebe und des gegenseitigen Respekts gefördert wird. Wenn dadurch auch nicht unbedingt und zwangsläufig Bewusstheit und Sachverstand gefördert werden, so schafft dieser Zustand doch eine Atmosphäre des Fortschritts und der Gemeinsamkeit, in der Krieg und Hass nicht gedeihen können, die aber statt dessen für Zusammenarbeit und Einheit offen ist – und das ist etwas, von dem wir nicht genug haben können und das wir für unseren Planeten dringend benötigen.
Sind wir mit unserem sexuellen Leben einigermaßen zufrieden, dann gehen wir vielleicht nicht ganz so freudig auf andere Menschen zu, aber wir sind immer noch grundsätzlich offen für neue Kontakte und Erfahrungen, und wir sind bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Wir arbeiten konzentriert, wenn auch nicht unbedingt inspiriert, und verbreiten eine Atmosphäre der Ruhe und Verlässlichkeit. Allerdings neigen wir dann auch dazu, das Leben einfach so hinzunehmen, keine Ansprüche an die Zukunft zu stellen und keine Visionen zu haben. In diesem Zustand sucht man keinen Streit, verwendet aber auch kein Herzblut dafür, ihn zu verhindern.
Ist man dagegen sexuell unzufrieden und frustriert, sei es weil der Sex schlecht war oder man nicht damit zurecht kommt, aus welchen Gründen auch immer, keinen sexuellen Ausdruck zu finden, dann wirkt sich das sehr deutlich auf die Stimmung und das Verhalten aus. Man wird unzufrieden, gereizt, unleidlich, aggressiv, unkooperativ, und das Bewusstheitsniveau und die Fähigkeit zur Selbstreflektion und zu Objektivität sinken. Statt dessen tritt das trennende Ego-Bewusstsein in den Vordergrund und beginnt, sich an allem zu reiben: an Einzelheiten der Arbeit, an der Arbeit an sich, an Eigenheiten der Mitmenschen (die immer weniger als solche empfunden werden), an den Lebensumständen, an Abläufen jeglicher Art und natürlich an den prominenten Vertretern anderer Ego-Bewusstseine. Dieser Zustand ist geprägt von Hass, Misstrauen, Ablehnung, unsozialem bis antisozialem und soziopatischem Verhalten. Wirkliche Zusammenarbeit findet nicht statt, und man sucht rücksichtslos den eigenen Vorteil und empfindet vor allem die etwas glücklicheren Menschen als Feinde. In dieser Atmosphäre gedeihen Macht- und Besitzstreben, Krieg, Ausbeutung, Manipulation, Intriganz und allgemein destruktives Verhalten – was eine sehr klare Beschreibung der gegenwärtigen Lage auf unserem Planeten darstellt und bedingt zu Rückschlüssen auf die globale Lage der sexuellen Kultur einlädt.
Natürlich gibt es für all diese Verhaltensweisen auch andere Ursachen, die letztlich alle zusammenwirken, aber wie schon Freud erkannte, ist die Sexualität neben dem Egoismus, wenn nicht von ihrem Wesen, so doch von ihrer aktuellen Bedeutung her, eine der wichtigsten davon. Und wenn wir uns den gegenwärtigen Zustand der Welt ansehen, dann liegt, wie schon angedeutet, der Schluss nahe, dass eine frustrierte Sexualität zu einem guten Teil dafür mitverantwortlich ist. Wir haben unsere Welt nicht frei gestaltet, weil wir nicht frei waren und es auch immer noch nicht sind, denn die Emotionen, die mit einer frustrierten Sexualität verbunden sind, halten uns mit festem Griff gefangen und färben oder diktieren unser Verhalten. Man könnte also sagen, dass unsere Welt das Resultat von Unbewusstheit, sexueller Frustration und Unreife ist, ein nie bewusst gestaltetes Zufallsprodukt.
Eine der Möglichkeiten, unsere Zukunft bewusst zu gestalten und aus unserer Welt einen besseren Ort zu machen, liegt also, neben einem generellen Bewusstseinswachstum, einer Entfaltung der Liebe und der Beziehungsfähigkeit, einer neuen Einstellung zu Besitz und neuen Beziehungsformen, einer reformierten Politik und Anderem auch und vor allem in einer freien und befreiten Sexualität, in einem neuen sexuellem Bewusstsein, für das eine Geisteshaltung nötig ist, deren Wachstum und Entfaltung den unerlässlichen Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durch eine neue Grundeinstellung und Offenheit deutlich erleichtern würde. All diese Bereiche bilden ein System gegenseitiger Beeinflussung, und darum hat jeder Fortschritt, der in einem Bereich erzielt wird, Einfluss auf alle übrigen Bereiche.
Mitursache für die vielen Probleme ist ein mangelndes Verständnis für die Sexualität und ihre Natur. Vor allem manche Kirchen möchten den Menschen Sex einzig und allein dann zugestehen, wenn eine bewusste Zeugungsabsicht innerhalb einer kirchlich geschlossenen Ehe der Grund für die sexuelle Aktivität ist. Selbstbefriedigung, Homo- und Bisexualität, Partnerwechsel, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Polygamie, Polyamorie, Promiskuität, Sex um der Freude willen oder gar Verhütung sind mit dieser Einstellung dann natürlich tabu, obwohl sich diese Kirchen seltsamerweise meist nicht weigern, Paare zu trauen, die auf Grund ihres Alters oder wegen Unfruchtbarkeit keine Kinder bekommen können. Diese ungesunde Einstellung zur Sexualität, die in einem eigenartigen Naturrechtsbegriff begründet ist, sichert der Kirche zwar eine enorme moralische Machtstellung, ist aber neben der allgemeinen menschlichen Unbewusstheit die Hauptursache für unseren verkrampften Umgang mit unserer naturgegebenen und – wenn man an Gott glaubt – gottgewollten Sexualität und für die daraus resultierenden Vorurteile und Neurosen.
Um den Umgang mit der Sexualität auf den Boden der Tatsachen zu bewegen, müssen wir uns ein wenig mit der Geschichte und der Natur der Sexualität befassen. Diese wurzelt in