Sexualität – Eine Zukunft für die Zukunft. Anand Buchwald
vermehrten sich durch Zellteilung, was im Grunde genommen einer Klonung entspricht, denn die daraus entstehenden Individuen sind genetisch identisch. Evolution, und damit die Ausbildung verschiedener Arten, erfolgte zu diesem Zeitpunkt dadurch, dass infolge chemischer Unfälle oder Strahlungseinflüssen Mutationen im Genom entstanden, die unverändert an die Nachkommen weitergegeben wurden. Dieser evolutive Prozess war selbst für den Zeitbegriff der Natur etwas langsam. Aber im Laufe der Zeit bildeten sich andere Vermehrungsstrategien heraus, welche den Ablauf der Evolution ein wenig beschleunigten.
Schließlich erschien die geschlechtliche Vermehrung auf der irdischen Bühne, die Trennung des überwiegenden Teiles des irdischen Lebens in männlich und weiblich, die dafür sorgte, dass sich verwandte, aber leicht unterschiedliche Genome miteinander mischen konnten, so dass aus dieser Verbindung einzigartige Nachkommen mit einem jeweils individuellen Genom entstehen konnten. Diese Erfindung der Natur beschleunigte die Evolution ungemein und führte zu dieser überbordenden taxonomischen und genetischen Vielfalt, die wir heute kennen und die von der auf Alleinstellungsmerkmale bedachten Saatgutindustrie bei Nutzpflanzen bereits bekämpft wird.
Die Rolle der Sexualität zu diesen Anfangszeiten der Geschlechtlichkeit lag also, zumindest in der Tierwelt, darin, männliche und weibliche Vertreter einer Spezies dazu zu bewegen, Nachkommen zu zeugen und die Vielfalt zu fördern. Zu diesem Zweck, um also einen Anreiz für die sexuelle Betätigung zu bieten, entstand der Sexualtrieb, der bei geschlechtlicher Vermehrung für die Erhaltung der Art bei gleichzeitig fehlendem Bewusstsein, absolut unerlässlich ist, weshalb er auch tief in unserem tierischen Erbe verankert ist, und die Pheromone und Hormone, um die richtige Richtung vorzugeben und den Einsatz der sexuellen Betätigung zu steuern. In diesen Anfangszeiten und in der entsprechend primitiven Tierwelt fand Sexualität in einer periodischen, kompulsiven Kopulation ihren Ausdruck, während sie in der übrigen Zeit nicht existierte. Und das scheint wohl auch der Zustand und die Zeitzone zu sein, auf die sich zumindest die katholische Kirche mit ihrem nicht-christlichen Naturrecht beruft und in denen es Homosexualität nicht oder höchstens als biochemischen Unfall gab. Und da der ganze Daseinszweck dieser primitiven Ur-Fauna in der Fortpflanzung bestand, kam es bei den kurzlebigeren Arten durchaus dazu, dass das Weibchen nach der Begattung das Männchen, das seinen ganzen Daseinszweck nun fast erfüllt hatte, zum Wohle der gerade eben gezeugten Nachkommen gleich verspeiste. Diese Verhalten kann man heute noch bei der Gottesanbeterin beobachten.
Aber die Evolution blieb bei diesem Stadium nicht stehen. Zwar haben verschiedene Insekten wie Ameisen und Bienen bewundernswerte Gesellschaften geschaffen, die in sich sicherlich vollkommen sind, denen aber durch diese Vollkommenheit jeglicher Reiz für eine weitere Entwicklung fehlt. Solche Gebilde, die faktisch ausevolutioniert sind, weisen eine sozialmechanische Natur auf, das heißt, sie vermitteln den Eindruck eines gut funktionierenden Sozialwesens, doch wenn man genau hinsieht, sind alle Begegnungen der Vertreter solcher Völker extrem ritualisiert und beschränken sich auf starre Arbeitsabläufe, die starren und im Wesentlichen unveränderlichen Funktionen zugeordnet sind. Ihre Mitglieder sind, wie andere niedere Vertreter der Fauna, im Grunde genommen biologische Roboter, die ihren vorgegebenen Programmen folgen und zu sozialer Interaktion, die über diese Programme hinausreicht, genauso wenig fähig sind, wie zu Individualität.
Religionen, die sich auf das Naturrecht berufen und sexuelle Betätigung nur zum Zwecke der Zeugung von Nachkommen akzeptieren, bringen damit zum Ausdruck, dass der ideale Mensch wie solch ein Roboter sein soll, der fleißig Nachkommen zeugt und brav seinen – durch die Religion vorgegebenen – Regeln folgt und nicht nach links und rechts schaut.
Die Natur war mit diesem Konzept aber wohl nicht ganz so zufrieden, denn statt die Welt mit sozialmechanischen Völkern aller Art zu besiedeln, entwickelte sie neue Konzepte, die mit dem Aufkommen der Wirbeltiere in den Fischen, den Sauriern, in deren Nachkommen, den Reptilien und Vögeln, und schließlich in den Säugetieren, mit den Menschen als höchsten Vertretern, schrittweise entfaltet wurden. Zu diesen Konzepten gehörten soziale Interaktion und Beziehungsfähigkeit, die für ihre Entwicklung aber einer Art Abgrenzung in Form von Individualität und Bewusstsein bedurften, die parallel dazu eingeführt wurden.
Die erste Ausdrucksform davon ist der Egoismus, den es bis dahin vor allem in Form des Lebenswillens als grundlegender Komponente und nachfolgend des kollektiven Staatsegoismus gab. Dieser Staatsegoismus verhinderte sehr erfolgreich die Entwicklung der Individualität. Und auch heute noch, wo wir uns von der Stufe der Insektenstaaten evolutionär weit entfernt haben, ist dieser Staatsegoismus in der Politik, in der Wirtschaft und der Religion noch präsent und würde es lieber sehen, wenn wir ohne groß zu denken und ohne Abweichungen einfach die vorgegebenen Regeln befolgen und wie geölt funktionieren würden. Die Insektenstaaten sind im Grunde genommen totalitäre Regime, was durch die fehlende Individualität kein Problem darstellt, aber auch keinen gestalterischen und evolutionären Spielraum bietet. Auch unsere gegenwärtigen Machtsysteme haben offen oder versteckt einen Hang zum Totalitarismus und damit zu sozialer und mentaler Stagnation und Unterdrückung von Individualität.
Der Egoismus, also das Sich-Abgrenzen von Anderen, förderte in der sich höher entwickelnden Tierwelt die Auflockerung sozialer Verbände, eine Aufweichung des Gruppenegoismus, das Einzelgängertum, aber auch die Rivalität, sei es in Bezug auf Machtpositionen oder auf Paarungsmöglichkeiten. Die rituellen Aspekte der Sexualität gingen im Verlauf der weiteren Evolution etwas zurück, um mehr Individualität in den Beziehungen zu erlauben, wodurch allerdings auch mitunter blutige Beziehungskämpfe und später Balzrituale häufiger Teil der sozialen Dynamik wurden. Der Paarungstrieb war weiterhin vorhanden, aber er verlor in der evolutionären Entwicklung langsam ein wenig von seinem zwanghaften Charakter. Während es etwa in der Insektenwelt und anderen Bereichen Usus war, dass sich die Befruchtungspartner nur zum Zweck der Kopulation zusammenfanden und nach dieser wieder ihrer getrennten Wege gingen und bei Fischen und Amphibien die Befruchtung außerhalb des Körpers und ohne Sex stattfindet, was kaum zur Bildung von Paaren, Familien oder Verbänden führte, wurde die Paarung nun ein zunehmend persönlicher Akt mit Familien- und bisweilen Rudelbildung und gemeinsamer Brutpflege. Dabei wandelte sich auch die Rolle der Sexualität, beziehungsweise erweiterte sie sich. Bei Tieren, die in Verbänden leben, gibt es oft ein Alphatier, das alleinige oder überwiegende Kopulationsrechte besitzt und diese nicht nur durch Rangkämpfe verteidigt, sondern auch durch häufigen Sex mit seinem Harem. Hier dient die Sexualität nicht mehr nur der Fortpflanzung, sondern wird bereits durch eine deutliche soziale Komponente ergänzt.
Diese gewinnt bei individuelleren und sozialeren Gemeinschaften zunehmend an Bedeutung. Paradebeispiele dafür sind die Bonobos. Bei dieser Schimpansenart, die auch Oralverkehr und Masturbation kennt, dient sexuelle Interaktion, die dann alters-, geschlechts- und rangunabhängig stattfindet, auch dem Aggressionsabbau, der Festigung sozialer Beziehungen und auch schon mal dem Erbetteln von Nahrung und scheint eine ganz normale, fast beiläufige Tätigkeit zu sein, wenn sie nicht gerade der Zeugung dient.
Unterstützt wird diese Entwicklung auch durch entsprechende biologische Veränderungen im Verlauf der Evolution. So ist da, wo die sexuelle Betätigung einzig dem Zwecke der Zeugung von Nachkommenschaft dient, der Drang zur Kopulation eher von zwanghaftem Charakter und auch nur kurzzeitig oder saisonal wirksam. In diesen Fällen bedeutet Kopulation auch fast immer eine Befruchtung. Evolutionsbiologisch ist so ein Verfahren natürlich sinnvoll, weil man sich in der übrigen Zeit um das eigene Überleben kümmern und neue Energien tanken kann. Trotzdem hat die Evolution auch Verfahren entwickelt, bei denen die Empfängnisbereitschaft länger anhält und mehrere Befruchtungsversuche nötig sind, um Nachwuchs zu zeugen. Da dabei auch oft mehrere Männchen beteiligt sind, liegt der Grund dafür wahrscheinlich darin, eine Spermienkonkurrenz zu erzeugen, bei der sich die kompatibelsten oder stärksten durchsetzen.
Wenn sich die möglichen Kopulationsperioden aber ausdehnen, verliert dieser Punkt ein wenig an Gewicht und es kommt ein weiteres Element hinzu. Zumindest in der höher entwickelten Tierwelt bildet sich durch den Sex das auch beim Menschen gut bekannte Oxytocin. Dieses Hormon fördert – nicht nur bei Paaren – die Bindungsfähigkeit und auch die sexuelle Lust und ist damit auch am Zusammenhalt der Gruppe maßgeblich mitbeteiligt. Da die Oxytocin-Ausschüttung als angenehm empfunden wird, strebt man danach, die Produktion in Gang zu halten oder sie immer wieder anzustoßen, was auch durch Berührung möglich ist, also etwa