RHI Zukunftsnavigator 2021: In Deutschland neu denken. Группа авторов
Reicher liegen oberhalb der 20-Prozent-Marke – und das, obwohl die Befragten gleichzeitig deutlich höhere subjektive Reichtumsgrenzen zugrunde legen. Zur Einordnung: Würde man beispielsweise nur diejenigen als »wirklich« reich definieren, die mit einem zu versteuernden Einkommen von 265 000 Euro der Reichensteuer unterliegen (bei einem Alleinstehenden entspricht dies monatlich knapp 12 000 Euro netto), dann zählten hierzu im Jahr 2018 nach Schätzungen der Bundesregierung rund 163 000 Personen 11 und somit weniger als 0,2 Prozent der Bevölkerung.
Die meisten Bundesbürger vermuten somit höhere Anteile armer und reicher Menschen, als es die Daten zu der Thematik nahelegen. Auch Abfragen zur vermuteten gesellschaftlichen Form – ohne konkreten Einkommensbezug – deuten darauf hin, dass die Wahrnehmung der Gesellschaft von den konventionellen statistischen Auswertungen abweicht. In unterschiedlichen Erhebungsformaten ist die Mehrheit der Deutschen der Auffassung, dass die deutsche Gesellschaft am ehesten der Form einer Pyramide ähnele.12 Auch wenn es unterschiedliche Bewertungen darüber gibt, ob die Mittelschicht einer stabilen oder schrumpfenden Entwicklung folgt, sind sich Schichtanalysen einig in dem Befund, dass die Mittelschicht die größte Gruppe der Bevölkerung darstellt. Ähnlich wie bei der Entwicklung der Ungleichheit wird somit auch die gesellschaftliche Struktur wesentlich pessimistischer wahrgenommen, als es Indikatoren zur Schichtabgrenzung für Deutschland nahelegen.
Positive Wahrnehmung der eigenen Situation
Neben der tatsächlichen Entwicklung der Verteilungsindikatoren steht häufig die Vermutung im Raum, dass sich bereits vor der Corona-Krise viele Menschen von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt fühlten und Abstiegsängste weit verbreitet seien. Befragungsdaten können dieses Bild jedoch nicht bestätigen. Im Gegenteil: In der aktuell verfügbaren SOEP-Erhebung des Jahres 2018 machen sich anteilig so wenige Menschen Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation wie zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Befragung im Jahr 1984. Die positiven Einschätzungen decken sich mit Beobachtungen aus der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Der Anteil derjenigen, die das Gefühl haben, dass sie weniger als den gerechten Anteil am Lebensstandard erhalten, ist in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Bei der subjektiven Selbsteinordnung sortieren sich immer mehr Menschen in höhere Schichten. Auf einer zehnstufigen Oben-Unten-Skala sortierten sich im Jahr 2018 rund 50 Prozent der Bevölkerung bei einer Sieben oder höher ein. Im Jahr 2006 lag der entsprechende Anteil bei 25 Prozent. Zum damaligen Zeitpunkt fühlten sich deutlich mehr Befragte der Mitte und unteren Mitte der Skala zugehörig. Einhergehend mit der positiven Beschäftigungsentwicklung vor der Corona-Krise zeigt sich auch bei der Entwicklung der Sorgen um den Arbeitsplatz ein überaus positives Bild. Im Jahr 2018 gaben beinahe drei Viertel der Erwerbstätigen an, dass sie sich überhaupt keine Sorgen machen, weniger als fünf Prozent machten sich große Sorgen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Befunde keinesfalls implizieren, dass es vor der Corona-Krise keine finanziellen Sorgen gab. Hinter den verbleibenden knapp zehn Prozent der befragten erwachsenen Bevölkerung, die sich im Jahr 2018 große Sorgen um ihre finanzielle Situation machten, steht die substanzielle Zahl von knapp sieben Millionen Erwachsenen, die ihre finanzielle Lage mit großer Besorgnis beurteilen. Im Jahr 2005 teilten jedoch noch knapp 19 Millionen Erwachsene im SOEP diese Einschätzung.
(Un-)Gleichheit und Gerechtigkeitseinschätzungen – kein eindeutiger Zusammenhang
Die Datenlage zeichnet ein weitgehend positives Bild für die Entwicklung seit 2005 – sowohl bezüglich objektiver Indikatoren von Einkommen und Vermögen und noch stärker bezüglich der subjektiven Wahrnehmung der persönlichen finanziellen Lage. Gleichwohl deuten Einschätzungen zum Zustand der Gesellschaft darauf hin, dass die individuell von vielen als positiv empfundene Entwicklung gesamtgesellschaftlich eher negativ beurteilt wird. Die kritische Beurteilung der sozialen Gerechtigkeit geht gleichzeitig mit dem Wunsch einher, dass der Staat die Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren möge.13
Wenn die Menschen konkret gefragt werden, welche sozialstaatlichen Maßnahmen das Land aus ihrer Sicht gerechter machen, erhalten diejenigen Maßnahmen besonders große Zustimmung, von denen auch die Mitte und die obere Mittelschicht profitieren. Leistungen, von denen ausschließlich weniger privilegierte Gruppen profitieren würden und durch die die Ungleichheit am stärksten reduziert werden könnte, finden hingegen keine mehrheitliche Zustimmung. Werden Finanzierungsfragen mitberücksichtigt, zeigt sich zudem ein sehr begrenzter Ausgabenspielraum für ungleichheitsreduzierende Politik. Breite Zustimmung erhalten nur Maßnahmen, die einzig eine zusätzliche Belastung »der Reichen« bedeuten. Diese Finanzierungsform lässt sich besonders leicht fordern, da sich nur sehr wenige Bundesbürger selbst in hohe Einkommensbereiche einsortieren, geschweige denn sich selbst »als reich« bezeichnen würden, und somit nicht mit einer eigenen zusätzlichen Belastung rechnen. Beobachtungen aus Survey-Experimenten deuten darauf hin, dass insbesondere Gutverdiener von ihrem zuvor geäußerten Umverteilungswunsch abweichen, wenn sie erfahren, dass sie selbst zu dessen Finanzierung beitragen müssten.14
Da gleichzeitig viele Bundesbürger den Anteil der (sehr) Reichen in der Bevölkerung deutlich zu hoch einschätzen, wird zudem auch das Potenzial der Finanzierungsquelle überschätzt. Die Bundesbürger äußern somit zwar mehrheitlich den abstrakten Wunsch, dass die Ungleichheit zwischen Arm und Reich reduziert werden sollte. Mit Blick auf die konkreten Umverteilungswünsche und die Fehleinschätzungen zu den möglichen Finanziers der Maßnahmen ist es jedoch keinesfalls eindeutig, dass die Umsetzung der präferierten Maßnahmen in einer substanziellen Ungleichheitsreduktion resultieren würde.
Zugleich deuten Umfragen darauf hin, dass die Präferenz für Leistungsgerechtigkeit in Deutschland besonders ausgeprägt ist. Mehr als 80 Prozent der Bundesbürger halten eine Gesellschaft dann für gerecht, wenn hart arbeitende Menschen mehr verdienen als andere.15 Größere Gleichheit und ein höheres subjektives Gerechtigkeitsempfinden können sich somit durchaus in unterschiedliche Richtungen bewegen.
Vor Corona war die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung überaus positiv, die Entwicklung der Verteilungsindikatoren stabil und die Wahrnehmung der individuellen Situation überaus positiv. Gleichwohl fiel der Blick auf die gesellschaftliche Situation sehr kritisch aus. Die Corona-Krise hat der positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung mindestens temporär ein jähes Ende gesetzt. Ob und wie sich die Einschätzungen zur sozialen Gerechtigkeit infolge der Krise verändern werden, wird die nächste Welle der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage zeigen. Unabhängig von der Ungleichheitsentwicklung und anders als bei der Finanzkrise ist es durchaus denkbar, dass die Gerechtigkeitseinschätzungen sogar positiver ausfallen, da die Menschen während der Krise möglicherweise wieder »näher zusammengerückt sind«.
Auf diese Entwicklung deuten zumindest die Ergebnisse einer speziellen SOEP-Cov-Befragung hin, die zeigen, dass die Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft während der Corona-Krise merkbar gegenüber den Vorjahren zurückgegangen sind.16 Zudem bleibt zu hoffen, dass die umfangreichen staatlichen Maßnahmen die negativen Krisenwirkungen so gut abfedern, wie es bei der Finanzkrise gelungen ist. In der Rückschau lassen sich die Jahre vor der Corona-Krise, mit Rekordbeschäftigung, stabilen Verteilungsverhältnissen und sinkenden Sorgen, sicherlich als eine eher »gute Zeit« einordnen – wenngleich die kritischen Gesellschaftsbewertungen der Bürger kaum eine positive Entwicklung erahnen ließen.
Anmerkungen
1 Vgl. Alexandra Fedorets/Markus M. Grabka/Carsten Schröder/Johannes Seebauer (2020): »Lohnungleichheit in Deutschland sinkt«. DIW Wochenbericht, Jahrgang 87, Nummer 7, S. 91–97.
2 SPIEGEL Online, 05.03.2020, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buerger-empfinden-deutschland-als-extrem-ungerecht-a-bed86bc6-aecc-4b00-b0a5-a1519ebfc111, abgerufen am 31.08.2020.
3 Vgl. Maximilian Stockhausen/Mariano Calderón: »IW-Verteilungsreport