RHI Zukunftsnavigator 2021: In Deutschland neu denken. Группа авторов
debattiert. Wie genau sich die Krise auf die Verteilungsverhältnisse und das soziale Gerechtigkeitsempfinden im Land auswirkt, dazu lassen sich mangels hinreichender Daten zum aktuellen Zeitpunkt noch keine konkreten Aussagen treffen. Bekannt ist hingegen die Einschätzung der Bevölkerung zur sozialen Gerechtigkeit vor der Corona-Krise. Gemäß der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) gaben im aktuell verfügbaren Erhebungsjahr 2018 knapp 75 Prozent der Befragten an, dass sie die sozialen Unterschiede in unserem Land als »eher nicht« oder »überhaupt nicht« gerecht empfinden. Die mehrheitliche Einschätzung ungerechter Verhältnisse ist zwar nicht neu, mit rund drei Vierteln der Bundesbürger reicht die negative Einschätzung jedoch erstmals wieder an den Höchstwert zu Zeiten der Finanzkrise heran. Der Zeitpunkt des neuerlichen Höchststands in der kritischen Wahrnehmung ist insofern überraschend, als er in eine Zeit sehr positiver wirtschaftlicher Entwicklung fällt, die Arbeitslosigkeit auf den Tiefstand seit der Wiedervereinigung gesunken ist und von den steigenden Reallöhnen erfreulicherweise besonders die niedrigeren Lohngruppen profitieren konnten.1 Da der Blick auf das gesellschaftliche Gefüge gleichwohl überaus pessimistisch ausfällt, stellt sich die Frage, wie überhaupt der subjektive Blick auf die Gesellschaft aussieht und wie die Veränderungen während der letzten Jahre wahrgenommen wurden.
Stabile Verteilungsverhältnisse
Wird nicht nach der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit im Allgemeinen, sondern konkret nach der vermuteten Entwicklung der Ungleichheit gefragt, fällt die Einschätzung der Bundesbürger ebenfalls eindeutig aus. Gemäß einer Civey-Befragung von 5012 Teilnehmern im Frühjahr 2020 im Auftrag von Spiegel Online waren beispielsweise 43,9 Prozent der Befragten der Meinung, die Ungleichheit der Einkommen habe in den letzten fünf Jahren »eindeutig zugenommen«, weitere 28,6 Prozent teilten die Auffassung, sie habe »eher zugenommen«.2 Möchte man diese Einschätzung mit der realen Entwicklung vergleichen, stellt sich zunächst vor allem die Frage, welche Kennziffern herangezogen werden sollen. Da das verfügbare Einkommen nach Abgaben und inklusive Transfers entscheidend für die Konsum- und Sparmöglichkeiten eines Haushalts ist, steht die Verteilung dieser Nettoeinkommen konventionell im Vordergrund von Armuts- und Verteilungsanalysen.
Zwar liegt die heutige Ungleichheit der verfügbaren Einkommen in Deutschland – wie in vielen anderen Industrienationen auch – höher als noch in den 1980er- oder 1990er-Jahren. Seit 2005 hat sich das Niveau der Einkommensungleichheit jedoch nicht mehr wesentlich verändert.3 Die amtliche Sozialberichterstattung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder weist beispielsweise auf Basis des Mikrozensus, der größten Haushaltsbefragung Deutschlands, für jedes Jahr zwischen 2005 und 2019 einen gerundeten Gini-Koeffizienten von 0,29 aus.4 Zwar werden die Einkommen im Mikrozensus nur klassifiziert und wenig detailliert abgefragt, dafür garantiert die gesetzlich verpflichtende Teilnahme eine weitgehend konsistente und repräsentative Stichprobe im Zeitablauf.
Es lässt sich sicherlich einwenden, dass es Teilgruppen in der Gesellschaft oder alternative Maße gibt, die auf einen Anstieg der Ungleichheit innerhalb der letzten Dekade hindeuten – die also mit der pessimistischen Wahrnehmung der Bevölkerung übereinstimmen. Zieht man jedoch die einschlägigen Indikatoren zur Messung der Einkommensungleichheit der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung 5 oder auch der amtlichen Sozialberichterstattung heran, dann zeigen die Befunde gleichermaßen, dass sich die Einkommensungleichheit seit mittlerweile mehr als einer Dekade nicht mehr wesentlich verändert hat.
Dieser Befund gilt auch für die Entwicklung der Ungleichheit der Nettovermögen. Entgegen weitläufiger Vermutungen, dass insbesondere die seit der Finanzkrise anhaltende Niedrigzinsphase mit den einhergehenden steigenden Immobilien- und Aktienpreisen zu einem starken Anstieg der Vermögenskonzentration führe, hat sich dieses in den verfügbaren Daten im Zeitraum bis 2017 bisher nicht gezeigt.6 Gleichwohl ist insbesondere die Messung der Vermögensungleichheit mit großen Unsicherheiten behaftet. Beispielsweise ist bekannt, dass die Untererfassung Hochvermögender in Befragungen eine Unterschätzung der Vermögensungleichheit impliziert. Ebenso hat die zusätzliche Erfassung von Vermögenswerten, die im unteren Vermögensbereich eine relativ größere Bedeutung haben (wie beispielsweise der Wert von Fahrzeugen), einen ungleichheitsmindernden Einfluss. Wie sich die Erfassungsprobleme jedoch auf die Entwicklung der Ungleichheit auswirken, lässt sich insbesondere rückwirkend kaum bestimmen.7
Festzuhalten bleibt, dass die Kernindikatoren der Einkommens- und Vermögensungleichheit innerhalb der letzten Dekade eine bemerkenswert stabile Entwicklung aufweisen. Es lässt sich zwar mit Recht kritisch hinterfragen, warum die Ungleichheit trotz der positiven Beschäftigungs- und Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre nicht eindeutig sinkt. In diesem Zusammenhang lassen sich die weiterhin steigende Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften und dem damit einhergehende Druck auf gering qualifizierte Arbeitsverhältnisse, ein zunehmender Trend zum Alleinleben oder auch die Migrationsbewegungen der letzten Jahre als einordnende Faktoren nennen. Unabhängig von der Bewertung dieser Erklärungsfaktoren verbleibt aber der Befund, dass die Wahrnehmung bezüglich der Entwicklung der Verteilungsverhältnisse deutlich negativer ausfällt, als es die konventionellen Verteilungsindikatoren nahelegen.
Reich sind immer die anderen
Gemäß der bereits zitierten Civey-Erhebung im Auftrag von Spiegel Online halten 74,8 Prozent der Befragten die Verteilung der Einkommen respektive die Verteilung der Vermögen für eher oder auf jeden Fall für ungerecht.8 Auch hier stellt sich die Frage, wie die Verteilungssituation überhaupt von den Bürgern wahrgenommen wird. Aufschluss ergibt in diesem Zusammenhang eine Befragung zur subjektiven Wahrnehmung von Armut und Reichtum, deren Ergebnisse im Rahmen des zweiten Symposiums zur Vorbereitung des 6. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung vorgestellt wurden.9 Bei der Frage, ab welchem persönlichen Nettomonatseinkommen eine Person in Deutschland als arm gilt, liegen die Befragten mit Werten in der Nähe von 1000 Euro nicht nur nahe beieinander, sondern auch in der Nähe der Schwelle, die am häufigsten im Kontext der Berichterstattung über Armut verwendet wird. Im Mikrozensus 2019 liegt die sogenannte Armutsgefährdungs- oder auch Niedrigeinkommensschwelle für einen Alleinstehenden beispielsweise bei 1074 Euro monatlich, in der aktuell verfügbaren Welle des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) bei 1168 Euro im Jahr 2017.10 Die Werte auf Basis des SOEP liegen trotz des früheren Bezugszeitraumes höher, da bei dem detaillierteren Einkommenskonzept ebenfalls unregelmäßige Einkommenskomponenten und Mietvorteile aus selbst genutztem Wohneigentum berücksichtigt werden. Je nach Datensatz und Befragungszeitpunkt lagen in den letzten Jahren zwischen 16 und 17 Prozent der Bevölkerung mit ihrem verfügbaren Einkommen unter diesem Schwellenwert. Die meisten Bundesbürger glauben jedoch, dass in Deutschland mehr als 30 Prozent der Menschen als arm gelten.
Bei den Einschätzungen zum Thema Reichtum gehen subjektive Wahrnehmungen und statistische Messungen noch weiter auseinander. Die Reichtumsschwelle der amtlichen Statistik liegt bei dem Doppelten des Medianeinkommens der Gesamtbevölkerung. Das Medianeinkommen ist genau das Einkommen, welches die Gesellschaft in eine Hälfte mit niedrigerem und eine Hälfte mit höherem Einkommen aufteilt. Auf Basis der höheren Einkommen des SOEP zählte demnach ein Alleinstehender im Jahr 2017 zu den relativ Reichen, wenn er über ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als rund 3890 Euro verfügte. Bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt der entsprechende Schwellenwert zum relativen Einkommensreichtum bei einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen in Höhe von 8170 Euro. Mit mehrheitlichen Nennungen zwischen 7000 und 10 000 Euro liegen die Schwellenwerte, ab denen jemand in der subjektiven Vorstellung der Bundesbürger als reich gilt, deutlich höher.
Wegen der deutlich höheren subjektiven Reichtumsgrenzen ist es wenig überraschend, dass die (mediale) Kommunikation der statistischen Reichtumsschwellen regelmäßig zu Verwunderung führt. In den Reaktionen auf die Berichterstattung werden viele Gründe gefunden, warum man trotz eines Einkommens oberhalb des Schwellenwerts noch nicht als reich gilt. Sicherlich entspricht die amtliche Reichtumsschwelle nicht dem typischerweise kolportierten Bild eines Reichen, der Villen und Luxusyachten besitzt und völlig frei von materiellen Risiken lebt. Man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass nur rund sieben Prozent der deutschen Bevölkerung über ein Einkommen oberhalb der zitierten Schwellenwerte verfügen – also bereits zum häufig zitierten oberen Zehntel der Gesellschaft zählen.
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