RHI Zukunftsnavigator 2021: In Deutschland neu denken. Группа авторов
interdisziplinäre Programme an Hochschulen zur Etablierung von Data Literacy Education einen wertvollen Beitrag leisten. In Deutschland beispielsweise fördert das bundesweite Data Literacy Education Netzwerk, an dem der Stifterverband maßgeblich beteiligt ist, seit Herbst 2019 die teilnehmenden Hochschulen bei der Entwicklung und Umsetzung von Good Practices und Data-Literacy-Curricula 9.
Corona bietet die Chance, zukünftige Krisen besser zu messen und zu managen, wenn mehr Vielfalt in den Gremien, die sich mit derart großen Problemen befassen, geschaffen wird.
Es sollten zukünftig verstärkt Menschen in die Expertenräte eingebunden sein, die die Diversität der Perspektiven abbilden. Dabei geht es sicher nicht ausschließlich um die Perspektive von Frauen, aber es fällt auf, wie wenige Frauen in entscheidenden Positionen vertreten sind und an den Strategien zur Bewältigung der Krise mitarbeiten. Dies wiederum spiegelt sich in den Daten, die als Grundlage für Entscheidungen zur Verfügung stehen.
Das Statistische Bundesamt Destatis veröffentlicht alle zwei Wochen ein umfangreiches Dossier mit Statistiken zur Covid-19-Pandemie. Elf Seiten der Ausgabe vom 8. Juni 2020 10 zeigen Statistiken zu den Fall- und Todeszahlen und zur Gesundheitsversorgung. 28 Seiten befassen sich mit Konjunktur, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, weitere 15 mit Branchen und Unternehmen. Auf ganzen zwei Seiten geht es um Bildung, was sich beschränkt auf die Darstellung von Tabellen zur Anzahl von Schülern, Lehrern und Kita-Kindern in den einzelnen Bundesländern. Eine einzige Seite beschäftigt sich mit dem Thema Umwelt, und sie wird zu einem Viertel eingenommen von einem Bild der Luftqualität-App des Umweltbundesamtes.
Es ist nichts darüber zu erfahren, wie sich die Schulschließung auf Kinder und Familien auswirkt, insbesondere auf diejenigen aus benachteiligten Verhältnissen. Offen bleibt, was Kurzarbeit und Kündigungen für Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Qualifikationen und unterschiedlicher Einkommensgruppen bedeutet. Genauso wenig wird thematisiert, ob die Schere zwischen den Hochqualifizierten und denjenigen in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter auseinandergeht oder wie stark das Armutsrisiko steigt für diejenigen, die zuvor schon gerade so über die Runden kamen, jetzt und später, wenn sie in Rente gehen. Schließlich fehlen Zahlen zur Zunahme häuslicher Gewalt, psychischer Erkrankungen und von Suiziden.
Viele Fragen bleiben offen. Denn die Daten, die für eine Antwort benötigt würden, sind in anderen Datenbanken verborgen oder werden gar nicht erst erhoben. Dabei liefert zumindest die Bundesagentur für Arbeit in der monatlich aktualisierten Zeitreihe der gemeldeten Stellen recht klare Hinweise darauf, dass die Jobchancen für Geringqualifizierte sowie in typischen »Frauenberufen« in den Frühjahrsmonaten 2020 deutlich gesunken sind.11 Statistikprofessor Ulrich Rendtel von der FU Berlin sagte in einem Interview: 12 »Menschen im unteren Einkommensdrittel verzeichnen stärkere Einkommenseinbußen durch Kurzzeitarbeit – sozialpolitisch ist das natürlich hochrelevant.« Rendtel ist einer derjenigen, die die Zusammenarbeit zwischen dem Robert Koch-Institut (RKI) und dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) koordiniert und vorangetrieben haben, um eine repräsentative Panelstudie zu möglichst vielen Aspekten der Corona-Krise zu ermöglichen.
In der verstärkten Förderung der Kooperation zwischen staatlichen Einrichtungen und privaten Partnern liegt die zweite große Chance zur Erhöhung von Data Literacy. Trotz der mittlerweile ausgebauten Testkapazitäten gibt es in Deutschland voraussichtlich erst ab September 2020 eine repräsentative Panelstichprobe für die Gesamtbevölkerung. Selbst für eine Institution wie das RKI scheint diese Aufgabe alleine zu groß, und erst in Kooperation mit dem SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) und der Universität Bielefeld wird sie lösbar.
Offenbar braucht es gemeinsame Anstrengungen von öffentlicher Hand, Universitäten und privaten Forschungseinrichtungen, um hohe Daten- und Forschungsqualität mit Agilität und der Fähigkeit zur schnellen Datenbeschaffung zusammenzubringen. Genau diese Mischung wird zukünftig benötigt, weil die großen Herausforderungen unserer Zeit – nicht nur Pandemien, sondern auch Migrationsbewegungen, Finanzkrisen, Klimaveränderung, wirtschaftliche Verflechtungen – nur noch von großen interdisziplinären Teams bewältigt werden können.
DIE KRISE LEHRT SCHMERZLICH, DASS NICHT JEDE ENTSCHEIDUNG DURCH DATEN »VORAUSBERECHNET« WERDEN KANN. DATA LITERACY IST DARUM VIELMEHR DIE FÄHIGKEIT, MIT UNSICHERHEIT UMZUGEHEN UND DIE VERANTWORTUNG FÜR ENTSCHEIDUNGEN NICHT AN DATEN UND ALGORITHMEN ZU DELEGIEREN.AUSBLICK: DATA LITERACY OHNE GRENZEN
Dies alles führt zu der klaren Erkenntnis, dass derartige Krisen nicht mehr von einzelnen Disziplinen und auch nicht in nationalen Alleingängen gelöst werden können. Das gilt umso stärker, als Daten heute eine unverzichtbare Grundlage möglicher Lösungsstrategien sind. Es braucht ein koordiniertes internationales Vorgehen über Institutionen und Disziplinen hinweg, und das gilt insbesondere für die Frage, mit welchen Daten eine Krise gemessen und gemanagt werden kann. Nur so entstehen verlässliche, vergleichbare Informationen.
Blickt man in die europäische Vergleichstabelle zu den Corona-Fallzahlen im Destatis-Dossier,13 so erscheint Belgien als das mit Abstand am stärksten betroffene Land. Über 84 Todesfälle auf 100 000 Einwohner weist die Statistik aus, erheblich mehr als in Italien und Spanien (56 beziehungsweise 58) und Deutschland (10). Das liegt aber vor allem daran, dass die belgischen Behörden auch Verdachtsfälle als Corona-Tote zählen. Genauso wenig sind Fallzahlen international vergleichbar.
Deswegen hat sich die Federation of European National Statistical Societies (FENStatS) mit einer eigens geschaffenen Covid-19-Arbeitsgruppe die Harmonisierung der entsprechenden Statistiken zum Ziel gesetzt.14 Knapp 30 Experten aus 17 Ländern und unterschiedlichen Arbeitsgebieten arbeiten seit Juni 2020 an Vorschlägen, wie zukünftig Daten zum Krisenmanagement besser erhoben und analysiert werden können. Denn nur mit informationsreichen, zuverlässigen, zeitnahen und relevanten Daten lassen sich belastbare Indikatoren für die Anfälligkeitsrisiken und Anpassungskosten der Gesellschaft entwickeln.
Es braucht eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg – Grenzen zwischen Nationen, Grenzen zwischen öffentlicher Hand und privaten Institutionen, Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen Betroffener, Grenzen zwischen Fachdisziplinen. Nur so wird es zu schaffen sein, große Risiken für unsere Gesellschaft zukünftig schneller und in allen Dimensionen zu verstehen. Hochschulen nehmen hierbei eine Schlüsselposition ein.
Damit sie diese Position kompetent ausfüllen können, fördert das Data Literacy Education Netzwerk in Deutschland den fachlichen Austausch, Peer-to-Peer-Formate sowie kollegiale Beratung. So können die beteiligten Hochschulen von ihren Erfahrungen wechselseitig profitieren und sich so bei der Umsetzung ihrer Data-Literacy-Programme unterstützen.
Das kann dazu führen, dass Daten verstärkt als »Open Data« geteilt werden, damit möglichst viele damit arbeiten und forschen können. Oder dass neue Datenquellen genutzt werden wie in den experimentellen Daten von Destatis. So zeigt etwa die tägliche Auswertung von Lkw-Maut-Daten,15 dass hieraus ein hoch aktueller und zugleich verlässlicher Konjunkturindikator berechnet werden kann.
Damit ist es aber nicht genug. Data Literacy darf nicht an den Grenzen der akademisch gebildeten Bevölkerung enden.
Das Eckpunktepapier der Bundesregierung kündigt die Prüfung und Initiierung von »Maßnahmen und Instrumenten zur Erhöhung der Datenkompetenz im Sinne einer umfangreichen Data Literacy in allen formalen und non-formalen Bildungsbereichen« an.16 Die Konferenz der Kantonalen Ärztegesellschaften der Schweiz hat im Juli 2020 einen »Appell für eine dringliche nationale Datenkompetenz-Kampagne« lanciert, der die »Schaffung und Förderung von niederschwellig zugänglichem Schulungsmaterial und Ausbildungsprogrammen für das lebenslange Lernen, allenfalls beginnend im Kindergarten« fordert.17
Bemerkenswert ist deshalb die Initiative des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (DVV), eine innovative Lern-App zum Thema Data Literacy zu entwickeln.18 Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Im Kontext von Gesundheit, Smart City, Mobilität, Umwelt, Wirtschaft und Energie sollen die Anwendungsmöglichkeiten aktueller Technologien wie etwa Big Data, Internet of Things und künstliche Intelligenz spielerisch vermittelt werden.
Datenbasiertes Entscheiden als Spiel? Womöglich