Schreckensgletscher - Thriller. Manfred Kohler
auf dem Weg zur Theke an Nelli vorbei und starrte sie an. Sie hörte ihn in Gedanken sagen: »Wir geben nichts ...«
»Meine Güte, was ist Ihnen denn passiert?«, war das, was er wirklich sagte. Nelli hatte die Tür noch in der Hand.
»Ich, äh ... hatte einen Unfall.«
Er beeilte sich, die Gläser auf die Theke zu stellen, kam rasch zu ihr zurück und wischte sich die Hände an einem rotkarierten Geschirrtuch ab, das halb aus seiner Jeanstasche heraushing. Durch seine lange Hippie-Matte und den Vollbart wirkte er jugendlich, aber um die Augen herum widersprachen tiefe Falten und dunkle Ringe dem ersten Eindruck. Er nahm ihr die Tür aus der Hand und schloss sie.
»Sind Sie verletzt?«
Sanft ergriff er ihren Oberarm und führte sie zu einem der leeren Tische.
»Nicht der Rede wert, aber ...«
»Warten Sie.«
Er setzte sie auf einen Stuhl und eilte zurück zur Theke. Nelli fiel auf, dass sein Haar hinten schon licht wurde.
Und dass sie von vielen Augen angestarrt wurde. Es waren, übereinstimmend mit den parkenden Autos, drei Tische besetzt. Eine Familie mit zwei Töchtern und einem kleinen Jungen saß ganz hinten auf der Eckbank, ein älteres Ehepaar in der entgegengesetzten Ecke der Wirtsstube und in der Mitte ein junger Kerl mit hochgekrempelten Jackettärmeln und Goldkettchen am Handgelenk. Zu wem der gehörte, konnte sie sich denken.
Der Wirt kam mit einem Verbandskasten zurück. Ihr war das peinlich.
»Ich bin wirklich nicht sehr verletzt. Nur das Handgelenk verstaucht und eine Beule am Hinterkopf.«
»Trotzdem«, sagte er, setzte sich zu ihr, öffnete den Verbandskasten und entnahm ein braunes Fläschchen mit Jod-Tinktur. Er betupfte damit die Wunde am rechten Handballen, was weniger brannte als Nelli vermutet hätte, und schnitt breite Pflaster von einem Leukoplast-Streifen. »Keine Angst, ich hab so was schon öfter gemacht. Ich bin übrigens der Andi.«
»Ich heiße Nelli.«
Hinter ihnen wurde es unruhig, und Andi fuhr herum. Das ältere Ehepaar war aufgestanden und ging an ihnen vorbei zur Tür.
»Können wir irgendwie helfen?«, fragte der Mann und betrachtete Nelli von Kopf bis Fuß. Seine Frau war sichtlich erleichtert, als Nelli nicht sofort bejahte.
»Ich bräuchte erst mal ein Telefon ...«
»Sollen wir Sie vielleicht mitnehmen? Wir sind auf dem Weg über den Pass ...«
Nelli überlegte, wurde aber durch einen heftigen Schmerz an ihrem Knie abgelenkt. Andi hatte mit dem jodgetränkten Wattebausch fest über die Schürfwunde gerubbelt. Nelli fragte sich, ob er wusste, was er da tat.
»Die junge Dame muss erst mal verarztet werden«, meinte die Frau, aber der Mann beharrte:
»Vielleicht ist es besser, wenn wir Sie zu einem richtigen Arzt mitnehmen. Nichts für ungut, Herr Hüttenwirt ...«
Nelli wischte sich eine Träne aus dem Auge und fragte:
»Sie wollen aber doch über den Pass?«
»Ja.«
Sie dachte an die Grenze jenseits des Passes und daran, dass der Diebstahl auf dieser Seite passiert war.
»Nicht meine Richtung. Aber vielen Dank.«
Der Mann nickte, seine Frau hakte sich erleichtert bei ihm unter und zog ihn zur Tür.
»Alles Gute«, rief er über die Schulter zurück.
»Danke.«
»So, das hätten wir.«
Andi packte seinen Sanitätskasten zusammen.
Nelli war in Gedanken noch bei dem älteren Ehepaar. Falsche Richtung, aber trotzdem ... –
Sie sah die beiden durchs Fenster in ihr Auto einsteigen. Noch war es nicht zu spät. Vielleicht waren sie bereit, noch mal umzukehren und sie auf dieser Seite ins Tal zu bringen. Der Frau würde es nicht gefallen, aber der Mann würde wohl einwilligen.
»Jetzt bringe ich dir erst mal ein schönes Frühstück zur Stärkung.«
»Was?«
»Magst lieber was Herzhaftes oder ...«
»Eigentlich, äh ...«
Nelli warf noch einen raschen Blick aus dem Fenster. Der Mercedes des älteren Ehepaares bog gerade vom Parkplatz auf die Straße.
»Käse und Schinken? Oder Müsli und Marmeladenbrot?«
»Eigentlich hab ich schon gefrühstückt. Ich müsste nur mal telefonieren.«
»Ein Telefon gibt es hier oben nicht.«
»Kein Telefon?«
Ein rascher Blick zum Fenster. Der Mercedes war verschwunden. Mist!
Als Nelli den Blick wieder in die Gaststube richtete, fiel ihr auf, dass die Seidenrock-Tussi neben dem Jackettträger mit Goldkettchen saß. Sie hatte sie gar nicht hereinkommen sehen. Die beiden glotzten unverhohlen zu ihr herüber und unterhielten sich flüsternd.
Ist ewig her, dass ich zuletzt einen Rock anhatte, dachte Nelli, es war an jenem Tag ... – Aber hier oben käme ich ja nie auf die Idee, mich so anzuziehen.
Sie dachte an ihre Kleider, ihren Schmuck, ihr Haus, die Möbel und Bilder und Pflanzen darin. Das alles war wohl längst verkauft, in alle Winde zerstreut, Vergangenheit. Wer es wohl in diesem Augenblick besitzen mochte? Diese Sachen waren ein wichtiger Teil von ihr gewesen – so wichtig wie jetzt ihr Fahrrad, ihr Kochgeschirr, ihre Vorräte, die Wasserflaschen, ihr Tagebuch. Vor allem das Tagebuch.
»Ich bringe einfach von allem etwas und vorneweg eine große Schorle.«
Aus ihren Gedanken gerissen, starrte Nelli ihm hinterher. Sie sprang auf.
»Nein, warte bitte!«
Er drehte sich um, den Verbandskasten noch in den Händen.
»Du musst doch ein Telefon haben. Oder ein Funkgerät. Irgendetwas, womit du Kontakt ins Tal hältst.«
Andi schüttelte den Kopf.
»Ich bin hier oben ziemlich autark. Vorratslieferung funktioniert per Dauerauftrag, und dann bin ich auch oft genug selber unten.«
»Also es ist so, ich hatte ja nicht nur einen Unfall, sondern ...«
»Zahlen, bitte!«, rief sehr laut der Familienvater am hinteren Ecktisch.
»Komme sofort!«, antwortete Andi und setzte sich in Bewegung. Zu Nelli sagte er im Davoneilen: »Ich bin gleich wieder bei dir, dann reden wir über alles.«
Sie nickte, trottete zu ihrem Tisch am Fenster zurück. Nach wie vor nichts los draußen. Und nach wie vor starrte das Pärchen herüber.
Nelli ignorierte die beiden und schaute sich etwas gründlicher in der Wirtsstube um. Andi stand am Tisch der Familie. Den schwarzen Geldbeutel hatte er hinten in den Bund seiner Jeans gesteckt, das Geschirrtuch über die Schulter geworfen, und er beugte sich über den Tisch. Der Familienvater hatte eine Straßenkarte ausgebreitet und ließ sich etwas erklären. Er deutete mit dem Daumen hinter sich an die Wand und dann wieder auf die Karte. Erst jetzt fielen Nelli die beiden gerahmten Bilder auf, die dort dicht nebeneinander hingen und Gebirgslandschaften zeigten. Von ihrem Tisch aus war nicht viel zu erkennen, nur, dass die Bilder sich sehr ähnelten.
Andi redete und redete, und wenn er Luft holte, hatte der Familienvater schon wieder eine neue Frage, und Andi redete weiter, während er sich immer mal wieder die langen Strähnen aus dem Gesicht hinters Ohr strich.
In Nelli keimte Ungeduld. Sie begann, darüber nachzudenken, ob sie sich zu Fuß auf den Weg machen oder das Goldketten-Pärchen ansprechen sollte. Vielleicht hatten die sogar ein Handy. Ganz sicher hatten die eines ...
Sie war gerade drauf und