Schreckensgletscher - Thriller. Manfred Kohler

Schreckensgletscher - Thriller - Manfred Kohler


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wo ist er?«

      »Der kann grad nicht.«

      »Also, das ist doch.«

      Nelli schüttelte den Kopf und wollte hinter die Theke und in die Küche gehen.

      Mit einem Schritt versperrte Gerda ihr den Weg.

      »Ich kann wirklich nicht länger warten.«

      »Dann gehen Sie halt.«

      »Ich brauche aber mein Fahrrad!«

      »Ich weiß nichts von einem Fahrrad.«

      »Andi!«, schrie Nelli so laut sie konnte aus unmittelbarer Nähe in Gerdas Gesicht. »Kommst du bitte mal, ich muss weiter.«

      Gerda blieb ungerührt.

      Nelli wartete.

      Keine Antwort.

      »Ach, verdammt.«

      Sie machte kehrt, ging an den Bauarbeitern vorbei zur Tür und verließ die Gaststube.

      Wahrscheinlich war Andi wieder hinten beim Lift.

      »He, Fräulein!«

      Nelli fühlte sich nicht angesprochen, aber drehte sich trotzdem um.

      Die vier Männer kamen hinter ihr aus der Gaststube.

      »Haben Sie Ärger?«

      Der gesprochen hatte war ein großer Kerl mit Baseballkappe, die er auch beim Essen aufbehalten hatte, und weit aufgeknöpftem Hemd. Er sah eigentlich ganz nett aus. Trotzdem, was die da drin vom Stapel gelassen hatten, machte die vier auch bei ernster Miene und scheinbar unvoreingenommenem Interesse nicht vertrauenerweckend. Nelli ließ sich von ihnen einholen und umringen.

      »Können wir helfen, Fräulein, äh ...?«, fragte der Große noch einmal.

      »Nelli. Ich weiß nicht, vielleicht.«

      »Probleme mit Gerda?«

      »Eigentlich nicht, nicht direkt. Ich bin vom Fahrrad gestürzt, oben am Pass.«

      Die Haustür ging auf, und ein älterer Mann mit Wanderhut, Kniebundhosen und plakettenverziertem Stock kam herein, gefolgt von einem weiteren Wanderfreund und noch einem. Nelli und die vier Arbeiter wichen in Richtung Toiletten aus, um Platz zu machen. Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, wurde sie wieder aufgestoßen und weitere Männer mit Wanderhüten und karierten Hemden und Rucksäcken drängten herein. Schon wieder ein Bus, offenbar.

      »Und, was haben die Hüttenleute mit dem Unfall zu tun?«, fragte ein anderer Arbeiter, der ein ausgeleiertes blassgraues T-Shirt zur geflickten Jeans trug.

      »Nichts. Ich weiß nicht, ich hab sie ja erst vorhin kennengelernt. Mein Fahrrad ist verschwunden, das ist das Problem.«

      »Und was sollte das eben mit Gerda?«

      »Die kann mich bloß nicht leiden. Ich hab da ein Fahrrad nebenan in den Garagen gesehen, das aussieht wie meines, und dieser Andi ...«

      Abrupt ging eine Tür hinter Nelli auf. Sie sah aus wie eine der Klotüren, aber statt der Buchstaben H und D trug sie die Aufschrift ›Privat‹. Andi steckte den Kopf heraus.

      »He, Leute, was gibts?«

      »Nelli vermisst ihr Fahrrad«, antwortete der Große mit der Baseballkappe.

      »Hat sie mir auch erzählt.«

      »Und?«

      »Könnte schon ihres sein, das in der Garage. Ich habs heute früh herrenlos auf der Straße liegen sehen und wollte es aufbewahren.«

      Nelli spürte den Impuls, ihm eine zu kleben.

      »Hier liegen wohl ständig herrenlose Fahrräder auf der Straße?«, fragte sie stattdessen. »Außerdem lag ich gleich daneben.«

      »Ich habe nur das Fahrrad gesehen. Tut mir leid, ich wollte bloß helfen.«

      »Schon gut Andi, dann kannst du es ihr ja jetzt geben.«

      »Klar. Ich hol bloß schnell den Garagenschlüssel.«

      Andi warf dem großen Kerl einen scheuen Blick zu und zog sich zurück.

      Nelli atmete auf. Sie packte die Hand des Arbeiters.

      »Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ...«

      »Schon gut, schon gut. Der Andi ist in Ordnung, der stiehlt bestimmt keine Fahrräder.«

      Den drei anderen wurde es sichtlich langweilig, und sie trollten sich zur Tür.

      »Wir müssen weiter, Nelli.«

      »Alles klar, ich komm mit raus.«

      Er hielt ihr die Tür auf.

      »Wie spät ist es eigentlich«, fragte Nelli, als sie draußen waren.

      »He, weiß jemand, wie spät?«, gab er die Frage weiter.

      »Fast eins«, rief einer der Kollegen zurück. Sie waren dabei, sich in einen grauen VW-Transporter zu quetschen.

      »Na, dann.«

      Der Große mit der Baseballkappe gab Nelli die Hand. Sie ergriff sie mit beiden Händen, drückte und schüttelte sie herzlich. Selten bei ihrer Reise war sie so erleichtert gewesen.

      »Noch mal danke.«

      Er nickte, stieg auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Nelli sah ihnen nach und winkte, bis der Transporter hinter der ersten Spitzkehre Richtung Pass verschwand.

      Lieber wäre es ihr gewesen, die Männer hätten gewartet, bis sie ihr Fahrrad tatsächlich hatte, aber offenbar kannten sie diesen Andi gut und hatten keinerlei Zweifel. »Du spinnst«, sagte sie leise zu sich selbst. Warum sollte ich mein Rad nicht zurückbekommen? Ich hätte es so oder so gekriegt. Die sind eben etwas langsamer hier oben und misstrauischer, aber doch keine Fahrraddiebe. Was sollte dieser Mensch auch damit anfangen? Ihr unersetzlicher Reisebegleiter war für andere nichts als ein zerschrammter Schrotthaufen mit geflickten Taschen, beladen mit alten Klamotten, billigen Vorräten und einem Notizbuch voller Gekritzel.

      Sie ließ den Blick über die kahlen Bergrücken und die Geröllfelder schweifen. Kein Strauch, kein Grashalm, nur Steine. Und immer nur eisige Winde, selbst jetzt im Sommer. Hier muss man ja seltsam werden. Nelli fand das Panorama grandios, mochte aber die Kargheit und Kälte nicht. Es zog sie Richtung Tal, ins Grüne, in die Wärme.

      Wo er nur schon wieder so lange blieb?

      Nelli ging an eines der Fenster zur Gaststube.

      »Das gibts doch nicht!«

      Sie sah Andi ein Tablett an einem der Tische des Wandervereins abstellen und seelenruhig mit den Gästen plaudern. Auf einmal waren Ungewissheit und leise Angst wieder zurück. Ihre Hände wurden feucht. Verflucht, hätte sie die Arbeiter doch gebeten, auf die Übergabe des Fahrrades zu warten!

      Sie schnaufte tief ein, um sich zu beruhigen.

      »Okay, ich kann mir selbst helfen.«

      Entschlossen ging sie in die Gaststube. Andi war gerade dabei, hinter dem Tresen in die Küche zu verschwinden.

      »He, Andi«, rief sie laut, aber sie bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. »Hast du vergessen, dass ich draußen warte?«

      »Ich komme gleich«, erwiderte er genauso freundlich und verdrückte sich in die Küche.

      Zurück blieb Gerda, Biergläser am Zapfhahn füllend und grimmig zu ihr herüberstarrend.

      Nelli behielt ihr freundliches Gesicht bei, ging zur Theke und beugte sich über den Tresen.

      »Jetzt hören Sie mal zu, ich habe das Theater endgültig satt. Wenn Sie ihn nicht auf der Stelle aus der Küche holen, dann ist was los! Ich will endlich mein Fahrrad haben!«

      Gerda zapfte seelenruhig zu Ende, stellte das volle Glas auf das Tablett zu den


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