Schreckensgletscher - Thriller. Manfred Kohler

Schreckensgletscher - Thriller - Manfred Kohler


Скачать книгу
legst dich nieder!«

      In der Tür zur Gaststube stand die Bedienung und starrte Nelli und Andi mit einer Mischung aus Empörung und Verständnislosigkeit an.

      »Schon gut, Gerda, die ist in Ordnung.«

      Die Thekenkraft glotzte weiterhin böse und hielt Nelli mit ihrem Blick in Schach.

      »Wir kennen uns von früher, alles klar?«

      »Ah, so ist das.«

      Nicht gerade weniger finster dreinschauend, aber offenbar beruhigt, trollte sich Gerda nach vorne in die Wirtsstube.

      »Wir kennen uns von früher?«, fragte Nelli.

      »Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben. Du musst ja ganz schön mit ihr aneinander geraten sein ...«

      Er grinste, und Nelli konnte nicht anders als zu lächeln. »Weißt du, das Ordnungsamt schaut zwar eher selten hier oben bei uns vorbei, aber du solltest wirklich nicht in der Küche sein.«

      »Schon klar. Aber ...«

      »Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Den ersten Brotzeitteller bekommst du, und sobald die Klasse draußen ist, schauen wir nach deinem Fahrrad. Ist das ein Wort?«

      Nelli nickte lächelnd.

      »Alles klar.«

      Sie ging zur Schwenktür und bekam sie fast auf die Nase, als Gerda hereinstürmte.

      »Noch vier Kästeller mehr, der Bautrupp ist da.«

      Nelli schob sich an ihr vorbei zum Thekenbereich und ging in die Gaststube. Sofort zuckten alle Köpfe zu ihr, und das Kindergeschrei verstummte zu einem vielstimmigen Tuscheln.

      Sie tat so, als sei nichts gewesen, und suchte sich einen Platz ganz hinten auf der Eckbank. Einige Schüler rückten fluchtartig zusammen, und Nelli sah dem Lehrer an, dass er nicht recht wusste, wie er sich nun verhalten sollte.

      Pfeif drauf, sollten sie doch denken, was sie wollten.

      Sie hatte einen Bärenhunger, wollte nur essen und dann weiter. Ihr Fahrrad zurückhaben. Nachsehen, ob noch alle ihre Sachen da waren, vor allem ihr Tagebuch. Sie würde eine Menge aufzuschreiben haben, wenn sie es je wiederbekäme.

      »Schauen wir nach deinem Fahrrad«, hatte Andi gesagt. War das Fahrrad in der Garage also tatsächlich ihres? Oder hatte er gemeint, er würde ihr bei der Suche behilflich sein?

      Nelli fielen die Bilder ein. Vorhin hatte sie die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien hinter der Familie hängen sehen, jetzt saß sie selbst schräg darunter.

      Sie stand auf und betrachtete die Bilder.

      Es handelte sich um ein- und dasselbe Motiv, vom selben Standort nur zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. 1902 stand unter der linken Fotografie, 2002 unter der rechten. Zu erkennen war ein Gebirgsmassiv, das ihr bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte sie es vom Pass aus in einem anderen Blickwinkel gesehen. Dahinter erstreckte sich auf dem linken Bild ein ungeheurer Gletscher. Schwer zu schätzen, aber er mochte mindestens 100 Meter breit gewesen sein. Auf dem rechten Foto war er zu einem Rinnsaal zusammengeschmolzen, und die ehemalige Ausbreitungszone glich einer trüben Kiesgrube.

      »Inzwischen wäre aus diesem Blickwinkel gar nichts mehr zu sehen«, hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie fuhr herum.

      »Was?«

      Andi stellte einen großen Teller mit Wurst- und Käsebroten auf ihren Platz, daneben eine Apfelschorle in einem Halbliter-Bierglas und deutete mit dem Kopf zu den Fotos.

      »Der Gletscherschwund. Es geht von Jahr zu Jahr schneller.«

      »Ach so. Dann ist er wohl bald ganz weg?«

      »An dieser Stelle schon. Weiter oben, etwa auf unserer Höhe hier und darüber, ist er immer noch ziemlich eindrucksvoll. Solltest du dir mal ansehen.«

      »Vielleicht, wenn ich mein Fahrrad wieder habe. Du hast gesagt, du hilfst mir suchen.«

      »Später, Nelli, später.«

      Er hatte sich schon von ihr abgewandt und stellte kleinere Teller mit belegten Broten vor gerümpften Schülernasen ab.

      »Käse, ih«, nörgelte einer, »und nicht mal Brötchen. Warum gibts in dieser blöden Hütte keine Pommes?«

      »Weil wir hier keinen Strom haben und deshalb auch keine Fritteuse, klar«, sagte Andi, ohne den Schüler anzuschauen. Und schon war er am nächsten Tisch.

      Kein Strom, das kann doch nicht sein, dachte sich Nelli. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es tatsächlich keine Deckenlampen gab. Auf den Tischen standen in altertümlichen Haltern weiße Wachskerzen, daneben lagen Streichhölzer.

      Nelli machte sich über die Brote her. Sie zwang sich, den Aufenthalt hier als eine Station von vielen zu betrachten. Sie würde ihre Sachen wiederbekommen. Warum sich also aufregen und damit diesen Reisemoment verderben und sich entgehen lassen? In ihrem geplanten Buch und in dem Vortrag über die Reise, mit dem sie einmal durch die Lande ziehen würde, bekäme dieser Ort seine Erwähnung. Gut möglich, dass es der Höhepunkt wäre. Vielleicht würde sie noch froh sein, dass ihr der Unfall passiert war, wenn sie nach überstandener Ungewissheit und aus der Distanz heraus davon berichten und ihre Leser und Zuhörer damit in Atem halten würde: wie es war, im Polizeigriff dieser Gerda gefangen zu sein und wie eine Verbrecherin angestarrt zu werden; die Ungewissheit, wo ihr Fahrrad sein mochte und ob sie es je wiederbekäme; und dann, hoffentlich, die Erleichterung, es tatsächlich zu finden und die Tour fortzusetzen.

      Nelli schluckte den letzten Bissen hinunter, trank ihr Glas leer und fühlte sich startbereit. Sie wartete ein paar Minuten und noch ein paar. Andi steckte in der Küche.

      »Zahlen, bitte.«

      Na endlich, die Klasse war im Aufbruch. Doch es kam nicht Andi zum Kassieren, sondern Gerda.

      Nelli wurde es zu dumm. Sie stand auf, stellte sich demonstrativ an die Theke und sah von dort aus zu, wie die Schüler sich trollten. Zuletzt verließ der Lehrer den Raum und bemühte sich krampfhaft, nicht noch einmal zu Nelli hinzusehen. Gerda räumte ab und säuberte die Tische.

      »Würden Sie Andi bitte sagen, dass ich auch zahlen möchte«, sagte Nelli bemüht freundlich, als sie mit einem Stapel Teller und Besteck an ihr vorbeiwatschelte.

      »Ich komm gleich.«

      »Nicht Sie, ich brauche Andi.«

      Gerda verschwand in der Küche. Nelli spürte ihre Ungeduld in Zorn umschlagen. Sie war allein mit vier jungen Kerlen, die Bier zu ihren Broten tranken, derbe Witze rissen und von ihrer Kluft her Straßenbauarbeiter sein mochten. Von denen wollte sie sich nicht unbedingt mitnehmen lassen. Nelli sah von der Theke durchs Fenster aus zu, wie die Schulklasse vom Bus aufgesogen wurde, zuletzt der Lehrer einstieg, ein Zittern durch den Bus ging, als der Motor ansprang, während die Tür noch offen stand, der Auspuff eine schwarze Qualmwolke ausstieß.

      Die offene Tür. Gleich wird sie geschlossen sein.

      Nelli hatte den Impuls, hinauszuspurten und in den Bus zu springen. Ihre letzte Chance!

      Unfug!

      »Zahlen«, brüllte einer der Arbeiter. Es dauerte keine zehn Sekunden, da tauchte Gerda auf.

      Die Bustür schloss sich.

      Gerda kam hinter der Theke vor und zückte den Geldbeutel.

      Der Bus bog auf die Straße ein und verschwand aus Nellis Blickfeld.

      Die Männer bezahlten reihum, zeigten sich großzügig mit dem Trinkgeld und standen unter mächtigem Stühle- und Tischerücken, Grölen und Lachen auf. Einer rülpste demonstrativ laut.

      Gerda steckte den Geldbeutel ein und schaute Nelli dabei mit einem Blick an, der sagte: An unser Geld kommst du nicht ran.

      »Was ist denn nun?«, fragte Nelli, als sie an ihr vorbei hinter die Theke ging.

      »Was denn?«


Скачать книгу