Wer braucht schon eine Null. Christine Corbeau
als falsch herausstellen. Aber ich komme gerade aus der Uni. Hatte noch was für den Fachschaftsrat im Büro zu tun. Den Giftzwerg habe ich da nirgendwo gesehen. Aber Blümchen ist da. Und wenn ich mich recht erinnere, dann prüft sie die eingereichten Dateien auf Vollständigkeit, bevor …«
»Das ist ja genial! Du bist genial! Ich muss los!« Ich drückte Hannes einen Schmatz auf die Wange und rannte los. In vollem Lauf schnappte ich mir den Rucksack vom Garderobenständer im Flur, sprintete nach draußen und die Treppe hinunter.
Hoffentlich hat Emmy noch genug Sprit.
Emmy war mein Auto. Auch wenn ich selbst Dingen eher keine Namen gab, war dieses kleine grüne Cabrio doch ein Geschenk von meiner Freundin Agata und sie hatte es so getauft. Natürlich hatte ich mich über ihre überraschende Gabe sehr gefreut, obwohl ich nur recht selten wirklich Verwendung für den fahrbaren Untersatz hatte. Von unserer WG kam ich normalerweise problemlos mit den Öffis zur Uni. Aber jetzt war Eile geboten, wenn ich das Schlimmste noch verhindern wollte. Ich warf mich auf den Fahrersitz und startete. Dann gab ich Gas und schoss mit quietschenden Reifen auf die ansonsten verlassen daliegende Straße im Babelsberger Park.
Oh, bitte, lass keinen Stau sein. Lass mich keinen Unfall bauen. Lass …
Da fiel es mir wieder ein und ich warf hektisch einen Blick auf die Tankanzeige.
Yay, noch halb voll. Das reicht locker.
Aus dem Augenwinkel sah ich auch die Anzeige auf der anderen Seite des Armaturenbretts. Die Nadel dort stand wesentlich weiter oben, als ich sie jemals gesehen hatte. In diesem Moment wechselte direkt vor mir ein SUV ohne zu blinken die Fahrspur und ich musste heftig bremsen, um ihm nicht hinten drauf zu rauschen.
Komm mal wieder runter. Es bringt doch nix, wenn die Polizei dich wegen der Raserei rauszieht. Dann kommst du erst recht nicht an.
Ich sog tief die Luft ein und ließ sie mit einem tiefen Summen langsam wieder entweichen. Nach zwei Wiederholungen entspannte sich der Griff meiner Finger um das Lenkrad ein wenig. Auch mein Herz fühlte sich nicht mehr dazu berufen, die Trommelwirbel des Songs von Egypt Central mitzumachen, der aus dem Radio schallte. Ich entschied mich dafür, nicht durch die Innenstadt zu fahren. So oder so würde ich ungefähr eine halbe Stunde bis zum Neuen Palais brauchen. Meine Intuition sagte mir, dass rund um den Bahnhof auch an einem Freitag zur Mittagszeit mehr los sein würde als auf der Rückseite des Parks Sanssouci.
Ich kam bis kurz vor den Abzweig am Drachenberg. Dort sah ich nicht nur eine ganze Reihe rot leuchtender Bremslichter, sondern auch einige blinkende Blaulichter.
So viel zum Thema weibliche Intuition im Straßenverkehr.
Während sich die Schlange quälend langsam an der Unfallstelle vorbeischob, fiel mein Blick einmal mehr auf die Anzeige ganz links. Der Zeiger stand fast senkrecht und damit dicht an einer roten Markierung. Sofort schaltete meine sowieso schon vorhandene Unruhe mindestens einen Gang höher. Hatte Agata nicht mal etwas davon erzählt, dass man auf die Temperatur achten musste? Das hatte sie definitiv, doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich einfach nicht erinnern, was genau es damit auf sich hatte. Als endlich auch ich durch das Nadelöhr geschlüpft war, lief der Verkehr zwar besser, aber ich wollte nur noch raus aus dem Wagen. Bis zum Parkplatz würde ich in diesem Tempo bestimmt immer noch zwanzig Minuten brauchen – wenn überhaupt etwas frei war. Spontan setzte ich den Blinker und fuhr auf eine links von der Straße liegende freie Fläche. Dort stellte ich Emmy ab und rannte querfeldein, an Mensa und Bibliothek vorbei Richtung Haus 8, wo ich hoffte, die Sekretärin zu erreichen, ehe sie ins Wochenende entschwand. Ich musste sie dann nur noch davon überzeugen, dass ich eine einzige Datei aus dem gesendeten Paket entfernen konnte, ehe sie dies an die Prüfungskommission weiterleitete. Im Grunde genommen hatte diese Datei zwar schon etwas mit Phonetik zu tun, aber eben nicht mit einer wissenschaftlichen Arbeit. Es war ein Video, das mir Simon mal vor einiger Zeit als kleine Ablenkung von all dem Stress geschickt hatte. Darin versuchten zwei Schotten in einem Lift die englische Spracherkennung dazu zu überreden, sie in den elften Stock zu bringen. Natürlich wurde ihr Slang nicht erkannt und die Typen am Ende ziemlich ausfällig. Ich hatte damals sehr gelacht.
Wenn’s nicht um meine Zukunft ginge, dann könnte das sogar jetzt lustig sein.
Der Gedanke brachte mich ins Straucheln. Fast wäre ich der Länge nach hingefallen. Ich konnte mich aber gerade noch abfangen.
Schweißgebadet und mit hängender Zunge erreichte ich schließlich das Sekretariat und stoppte an der geschlossenen Tür. Dahinter waren Geräusche zu hören, die ich nicht erkennen konnte. War das eine Unterhaltung? Gelächter? Oder nur das Radio?
Egal, es heißt, dass noch jemand da ist.
Ich klopfte – vielleicht etwas stärker als notwendig, aber ich war nicht in der Lage, mich so kurz vor dem erhofften Ziel zu zügeln.
Auf der anderen Seite verstummten die Geräusche.
»Frau Blühmel? Könnte ich Sie vielleicht kurz sprechen?«
Die Tür wurde geöffnet. Noch bevor ich sehen konnte, wer dahinter stand, wusste ich, dass es tatsächlich Blümchen war. Der für sie so typische Duft von »Anaïs Anaïs« wallte durch den Spalt und ließ meine Anspannung direkt ein wenig abklingen.
»Oh, hallo Martha. Was gibt’s denn heute noch? Die Unterlagen für den FSR hat doch vorhin schon Hannes abgeholt.« Das rundliche, von krausem Haar umrahmte Gesicht der Sekretärin war leicht gerötet. Es wirkte, als hätte sie sich gerade angestrengt. Aber es konnte natürlich auch nur an der sommerlichen Hitze liegen. Mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck ließ sie mich eintreten und ging wieder zu ihrem Schreibtisch. »Na, wenn’s schnell geht. Ich bin schon fast auf dem Weg ins Wochenende.«
»Ich will Sie auch gar nicht lange stören. Aber ich habe da ein … ähm Problem mit meiner Arbeit. Das Zeitfenster fürs Hochladen war vorhin schon fast vorbei als ich die Dateien …«
»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken«, erklang hinter mir eine Stimme. Ein eisiger Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Ich drehte mich um und sah sie in der Tür zu ihrem Büro stehen.
Appolonia Zacken-Barsch war eine imposante Person. Und das, obwohl sie zu mir aufblicken musste. Wer je die Serie Navy CIS: L.A. gesehen hat, der kennt Hetty Lange, die beinharte Chefin des Ermittler-Teams, die trotz geringer Körpergröße in der Lage ist, ganze Säle mit ihrer Persönlichkeit zu füllen. Es konnte gut sein, dass sich die Regisseure von meiner Professorin inspirieren lassen hatten. Und nun stand sie vor mir und trug ein Mona-Lisa-Lächeln zur Schau.
»Ich muss zugeben, dass ich mir einige Gedanken darüber gemacht habe, ob Sie es schaffen werden, Ihre Unterlagen in der vorgegebenen Zeit einzureichen. Daher habe ich hier bis zum Ende der Abgabefrist ausgeharrt. Und siehe da. Ich wurde nicht enttäuscht. Just in time und mit dem Mut zu einem außergewöhnlichen Auftritt.« Der Blick meiner Professorin wanderte nach unten und ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Ja, in der Tat. Einzigartige Aktionen helfen, aus der Masse hervorzustechen. Sie sind allerdings kein Garant für Erfolg.«
Während sie sprach, konnte ich nicht anders, als mit den Augen ihrem Blick zu folgen, der konsequent auf etwas gerichtet war, das sich direkt vor meinen Füßen zu befinden schien.
Als ich es sah, wurden meine Knie weich. Ein irres Kichern wollte sich seinen Weg durch die Kehle bahnen.
Na, wenn das kein einzigartiger Auftritt ist!
In meiner Hast war ich offensichtlich so kopflos aus dem Haus gerannt, dass ich vollkommen vergessen hatte, mir Schuhe anzuziehen.
Das bedeutete allerdings nicht, dass ich barfuß vor meiner Professorin stand.
Deshalb hat sich das Rennen auch so seltsam