Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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zu tanzen, sie wäre sicher in der Lage, mannesgleich einen schwächeren Partner zu führen! Ihr zweites Gesicht entsprach eher der Vorstellung, die sich die Truppe gebildet hatte, er hatte diese übernommen, und so lag er stets auf der Lauer, wann die seltsame alte Dame mit offenen Karten spielen würde. Er war den ganzen Tag durch die Stadt gestreift, in der er kein Mädchen kannte, und um eines zu finden, war keine Zeit. Er zwang sich dazu, seine Mutter anzurufen, um sie mit der Nachricht zu erfreuen, dass er zum letzten Mal solide mit dem Tanzen Geld verdiene, ihm dies aber auch selbst keinen Spaß mehr mache, und deshalb freue er sich auf sein Treffen mit Robert, das er nur ein kleines bisschen habe aufschieben müssen. Eigentlich war er der alten Dame für diesen ruhigen Abend dankbar, und deshalb hatte er sich ihr auf dem Parkett gewidmet, soweit er dazu in der Lage war. Die Episode auf dem WC präsentierte ihm nicht nur sie in einem neuen Licht, sondern auch den Chauffeur, der von einem unterwürfigen Diener, der die Mütze zog, mit einem Mal zu einem Mafioso mutiert war. War er vielleicht sogar ihr Liebhaber? Dann bleibt für mich wirklich nur die Tänzerrolle übrig! atmete er auf.

      Die unerwartete Einladung auf ihr Zimmer überraschte ihn. Sollte vielleicht doch?? Darauf hatte er wirklich keine Lust, aber ... die Jungs hatten recht, er schuldete ihnen viel, wo sie ihn doch unter sich aufgenommen hatten. »Schalte deinen Magen auf Schwanz, Spacko!« erinnerte er sich an Mireks guten Rat aus dem Casino, doch er war sich nicht sicher, ob er dazu fähig sein würde. Herrgott, warum habe ich die Jungs nicht um Viagra gebeten?? Die Vorstellung der wahrscheinlich schon beginnenden Peinlichkeit brachte ihn durcheinander, er setzte sich begriffsstutzig auf den Platz, den sie ihm auf dem Ledersofa anbot, und blickte blind auf die leuchtende Stadt hinter dem breiten Fenster. Sie holte aus der Minibar zu den Gläsern auf dem Tisch ein großes Wasser und vier kleine Flaschen mit verschiedenen Destillaten, dann setzte sie sich neben ihn.

      »Ich trinke lieber Wasser als Null-acht-fünfzehn-Whisky. Du such dir was aus.«

      Er goss sich also französischen Cognac ein, und als sie mit ihm angestoßen und sie getrunken hatten, beschloss er, von selbst zu beginnen, um Herr der Lage zu sein.

      »Warum hast du seit dem Lottogeschäft kein Wort mehr mit mir gesprochen?«

      »Weil ich dich jetzt eingeladen habe, um es dir zu erklären. Der Jude war mein Ersatzvater, nachdem mein richtiger meine Mutter und mich gleich nach der Geburt im Stich gelassen hat. Dieser war Arzt, er hat meine Mutter wieder glücklich gemacht, mich hat er nach allen Kinderkrankheiten wieder aufgepäppelt, und ehe er sich von ihr scheiden ließ, entdeckte er noch, dass ich schon als Kind tanzen konnte.«

      »Also noch ein Arschloch!«

      Sie rollte die Augen: »Warum soll er ein Arschloch gewesen sein?«

      »Na, warum schon ... der Judenbruder hat euch doch auch im Stich gelassen, oder?« Im selben Moment hatte er das Gefühl, dass sie ihn anschaute wie ein unbekanntes Tier.

      Wenig später stand sie auf und zeigte auf die Fläschchen mit den Schnäpsen: »Trink das lieber bei dir drüben aus und lass dazu einen Porno laufen!« Sie ging mit ihrem Glas Wasser ins Schlafzimmer nebenan, und er verstand etwas verspätet, dass sie ihn eigentlich rausgeschmissen hatte.

      Sie konnte lange nicht schlafen, so aufgebracht war sie, die üblichen Einschlafübungen halfen nichts. Judenbruder!! Von Kindheit an war dies für sie das schlimmste aller Wörter. Ich will diesen Primitivling nicht mehr sehen!! Da erinnerte sie sich daran, wie sie Viktor einst aus dem Schachklub abgeholt hatte und seinen Lieblingspartner, einen ehemaligen Philosophieprofessor, vernahm, wie er behauptete: »Die Sowjets wären beim Schach Winzlinge, wenn sie nicht ihre genialen Judenbrüder hätten.«

      »Und du hast nicht mal mit der Wimper gezuckt!«, wunderte sie sich auf dem Heimweg. »Ich weiß genau, dass er kein Rassist ist, das Wort hat er wohl irgendwann mal in seiner Familie aufgeschnappt, und ich bin nicht Comenius, um ihn zu lehren, weise zu sein.« Warum trug sie diesen Staffelstab der Toleranz nicht weiter? Sie zwang sich, den Verlauf des heutigen Tages Revue passieren zu lassen, so wie ihn wahrscheinlich der junge Mann wahrgenommen hatte. Sie selbst musste ihm, schon seit sie Prag verlassen hatten, vorgekommen sein wie ein berechnendes Weibsbild, die in der Emigration, in die sie nicht mehr als die Jüngste gegangen war, bei der erstbesten Gelegenheit ihren unfähigen Mann gegen einen Millionär eingetauscht hatte, den sie anschließend auch irgendwie losgeworden war, um dann in ihrer alten Heimat das süße Leben genießen zu können, indem sie junges Fleisch kaufte, natürlich!, nach ihrem Verhalten in dem Modegeschäft hätte er auch den absurden Verdacht schöpfen können, dass sie ihn damit fürs Bett abonniere! Und sie suchte stattdessen wie eine Irre eine nicht existierende Synagoge und entdeckte in einem Wettbüro die ehemalige Praxis ihres Vaters, den sie darüber hinaus noch als echten Stiefvater bezeichnete.

      Immer und immer wieder verspürte sie das Bedürfnis, sich mit Giorgio zu beraten, doch sie hatte schon am Nachmittag lange mit ihm gesprochen und nun wirklich keinen guten Grund in petto, ihn um Mitternacht zu wecken. Der Verstand sagte ihr, dass diesem jungen Mann Geschichten wie die ihre ebenso fremd waren wie ihr beispielsweise die Französische Revolution. Das Gefühl protestierte leidenschaftlich: Diese Tragödie hatte sich in seinem Land vor so kurzer Zeit ereignet, dass bisher noch nicht alle Beteiligten weggestorben waren, zu denen auch sie zählte! Der Verstand wandte leise ein, es sei ja ihre eigene Schuld, da sie um so vieles die durchschnittliche Lebenserwartung überdauert hatte, dass zwischen ihr und ihm bereits zwei Generationen lagen. Und wenn es fünf wären! rief das Gefühl, wie kann jemand, der eine Hochschule absolviert hat, nicht wissen, dass hier innerhalb von nur drei Jahren ein ganzes Volk ausgestorben war, dass über einhunderttausend Einwohner dieses Landes zu Seife wurden? Mit diesen Gedanken tauschte sie dann irgendwann das Bewusstsein gegen den Schlaf ein.

      So nicht! wiederholte er auf dem Weg zu seinem Zimmer, so lasse ich nicht mit mir umspringen! Aus Wut zog er sich wirklich einen dummen Pornofilm rein, der wohl gerade mal einen Jungen, der frisch in die Pubertät gekommen war, erregen konnte, und schon bald nahm er ihn gar nicht mehr wahr, weil er, schnell hintereinander, die Fläschchen mit Gin, Wodka und Whisky ausgetrunken hatte, reifte in ihm ein fester Entschluss: Am Morgen würde er der Tante sagen, dass er kein Fußabtreter sei, auf dem sie ihre Launen abstreifen könne, er würde ihr die módes róbes zurückgeben, mit denen sie wahrscheinlich all ihre Gauchos bestach, und in seinen alten Klamotten mit dem ersten EC nach Prag zurückfahren; Robert würde ihm blitzschnell ein Treffen mit dem Chef arrangieren, der Chef nahm ihn bestimmt gern wieder, und dann konnte sich die Alte ihr Geld sonst wohin stecken, er bekam als IT-Fachmann genauso viel, ohne sich kaputt zu machen ... mitten in diesen Gedanken spielte man irgendwo seine Lebensmaxime »I go my way!« Betrunken wie er war, konnte er sich doch noch vergegenwärtigen, dass er angezogen auf dem Bett lag und das Handy in der Brusttasche des Sakkos steckte. Er fingerte das Gerät hervor und konnte sogar noch die erotischen Seufzer aus dem Fernsehen auf ein Minimum reduzieren. Es war Kája.

      »He Spacko, stören wir dich nicht beim Ficken?«

      »Nee, ich bin allein, sie hat ihr Apartment.«

      »Aber du hast die doch schon gefickt, Spacko?«

      Dann hörte er sich lügen: »Sie ist den ganzen Tag nicht vor die Tür gekommen, und jetzt waren wir auf einer Milonga, dort hat sie dann nicht durchgehalten ...!«

      »Wie viel hat sie dann wenigstens ausgespuckt?«

      »Wieder so viel wie in Prag, wahrscheinlich hat sie dafür einen Tarif.«

      »Spacko, dann verlang doch mehr, wenn sie dich hinter sich herzieht wie einen Koffer!«

      Leo hörte aus der Ferne, wie Kája einwarf: »Hat er sie schon gevögelt?«, und er antwortete schnell: »Ja, das mach ich schon noch, morgen fahren wir weiter.«

      Das interessierte Kája: »Wohin?«

      »Keine Ahnung, aber ...«, plötzlich schwang sich in ihm die Demütigung zu einem Eid eines Betrunkenen auf: »Jungs, ich werde diesen alten italienischen Klepper einreiten, dass sie von selbst pariert, auch wenn ich dann jedes Mal von dem Gammelfleisch das große Kotzen kriegen sollte ... Also ciao ... ich meine – ahoj!«

      Das Unterbewusstsein ersetzte ihr das mitternächtliche Bedauern reichlich durch den Besuch ihrer beiden Viktors.


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