Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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sein wollte. Da sie nach der sowjetischen Okkupation Mitglied des Koordinierungsausschusses des Künstlerverbandes wurde, die vereinbart hatten, dass sie, statt sich zu erniedrigen, lieber, wie der Dichterkönig Jaroslav Seifert gesagt hatte, »mit wehenden Fahnen untergingen«, saß sie neben dem alten Barden auch an jenem nicht enden wollenden Herbsttag, an dem im Mánes die Solidaritätserklärung als Manifest angenommen wurde. Damals war auch Viktor mit dabei und hatte unterschrieben, doch zu Hause holte er sie mit einer harten Prophezeiung aus einem weiteren Traum.

      »Die meisten deiner Helden werden auf Jahr und Tag überlaufen, um nicht auf dem Scheiterhaufen zu enden.«

      Es dauerte kein halbes Jahr, als er sie überredete, zumindest »vorübergehend in das andere Europa zu gehen, ehe sich entscheidet, wer wen auffrisst«. Er selbst tippte darauf, dass Husák obsiegen würde, der »fähig sein würde, selbst das Ballett zu verbieten, damit die Jandová aus dem Nationaltheater verschwindet«. Er sollte sich nicht irren. Eine Woche nach ihrer Landung in Mailand, wohin sie die Scala auf Grund eines besorgten Briefes solidarisch eingeladen hatte, um in »Schwanensee« ein Gastspiel zu geben, erklärte in Prag der neue Genosse der Erste in seinem originellen Tschechoslowakisch, der Staat sei »kein Taubenschlag, aus dem jeder ausfliegen kann, wie es ihm gerade einfällt«, im selben Augenblick ließ er die Grenzen schließen, »damit nicht einmal eine Maus entwischen kann«. So begann der Weg der Primaballerina zu neuen Höhen und der Fall des Dichters ins literarische Nichtsein, bei dem er aus Liebe zu ihr freiwillig seinen Lesern und seiner Sprache den Rücken kehrte.

      Sie war dankbar, dass sie von einer Gruppe englischer Studenten aufgeschreckt wurde, die sich hierher verirrt hatte, anscheinend müde nach einer mehrtägigen Party mit gutem und für sie billigem Bier, sie redete dem Ober die Idee aus, sie nicht zahlen zu lassen, drängte ihm im Gegenzug reichlich Trinkgeld auf und versprach, ganz sicher in vierzig Jahren wiederzukommen. Sie lief am Ufer entlang bis zur Čech-Brücke, von da aus zur Tochterfirma des Modehauses aus Rom vor dem Altstädter Ring und verblüffte das Personal, indem sie die genauen Maße eines Kunden diktierte, mit dem sie, wie sie bekannte, nur einige Male getanzt hatte. Sie leistete mit einer Golden Card eine stattliche Anzahlung, ebenfalls für das Versprechen, sie noch heute eine Stunde oder später nach dem Schließen des Geschäfts zu erwarten, und sie ließ die Angestellten rätseln, ob die bestellten Stücke dem Bedachten auch tatsächlich passen würden. Dann hielt sie das nächste Taxi an, hörte zur Abwechslung in tschechischer Sprache die Klage des Fahrers über das Wetter, die Preise und die Regierung, und begab sich im Hotel direkt ins französische Restaurant, um sich persönlich für den Abend den besten Tisch auszusuchen. Der Maître war schon informiert, denn er teilte ihr sofort einen Ober zu, der perfekt italienisch sprach, vor allem deshalb, weil er Italiener war.

      Leo versöhnte sich mit seiner Mutter dadurch, dass er am anderen Tag das tat, wonach sie sich schon lange gesehnt hatte. Er stand vor acht Uhr auf, rief Robert absichtlich beim Frühstücken an, um ihm vor ihr zu sagen, er wolle sich bald mit ihm treffen und über eine mögliche Rückkehr in die Firma beraten. Begeistert war auch der Freund, und sie verabredeten sich, was die Mutter noch mehr freute, für den nächsten Abend. Leo rechnete logischerweise damit, falls ihn die schwerreiche Tschechoitalienerin noch ein drittes Mal buchen würde, mit dem Freund den Termin zu ändern, und der Mutter würde er erklären, Robert habe ihn darum gebeten. Da er so ungewohnt früh in sein Zimmer zurückgekehrt war, wo ihm die Mutter, ehe er die Zeitung fertig gelesen hatte, aus Dankbarkeit wieder einmal das Bett gemacht und aufgeräumt hatte, raffte er sich zu einer weiteren Aktivität auf, die er lange verdrängt hatte. Er erneuerte seine eigene Webseite und versuchte, mit ihrer Hilfe noch suggestiver zu veranschaulichen, worum sich jeder bringe, der seine Dienste nicht in Anspruch nähme. An der Nachfrage Null änderte dies jedoch bis zum Abend nichts, eine gewisse Enttäuschung vertrieb er mit einem Schläfchen, als er sich sicher war, dass ihm die Mutter dies heute nicht übelnehmen würde.

      Er wachte so spät auf, dass er es nicht schaffte, noch etwas zu essen, doch vor dem Eingang zur Lucerna in der Straße Štěpánská stand er eine Minute vor acht mit vorbereitetem Regenschirm, den zu holen er noch einmal zurückgelaufen war, als ihn vor der Haustür Regen begrüßte. Und einen Moment später erblickte er dasselbe Bild, bei dem sich die ganze Straße aufzutun schien, damit das weiße Wunder majestätisch durch die Mitte vorfahren konnte. Da schoss auch schon die Automatik des Schirms der mit Seide bespannten Federn ab wie ein Fallschirm, und Leo lief auf die Fahrbahn, um an der hinteren Tür die Hilfe des Chauffeurs zu ersetzen. Als er sie öffnete, schien es ihm, als sei eine andere Frau gekommen, im Unterschied zum fast sportlichen Kostüm, das sie am Abend vorher getragen hatte, trug sie eine Robe, die er auch auf Milongas in besten Kreisen noch nicht gesehen hatte. Die große Schlachtausrüstung! fiel ihm beim Blick auf ihr Kleid und den Schmuck spontan ein, und trotzdem nicht auffallend überladen, wie sich manchmal in Tschechien übergewichtige Ehefrauen behängen, die von ihren neureichen Millionären mit Goldschmuck überschüttet werden, damit sie sich ohne Vorwürfe mit ihren schönen Assistentinnen vergnügen dürfen. In dieser bewundernden Phase hörte er erst beim zweiten Mal, dass sie nicht daran denke auszusteigen, im Gegenteil, er solle einsteigen, er versuchte es sinnloserweise von ihrer Seite aus, bis er begriff, dass er das von der anderen Seite aus tun musste, darauf machte wiederum sie ihn aufmerksam, indem sie ihn auf den Gegenstand hinwies, der ihn am Einsteigen hinderte. Nachdem er seinen Schirm endlich geschlossen hatte, konnte er auch hinter sich die Tür schließen, der Ghost fuhr weich im Spalier der stummen Bewunderer an und glich dabei den Wagen von Befehlshabern der Militärparaden aus Fernsehübertragungen.

      Das Innere der Limousine glich einem winzigen Apartment, das vom Fahrer durch eine so starke Glasscheibe getrennt war, dass sie schusssicher erschien. Er kehrte zu ihrem Outfit zurück und wies unzufrieden auf seines, das für eine Milonga ausreichte, doch neben ihr ...

      »Ich glaube, ich passe nicht ganz zu Ihnen ...«

      »Egal!«

      Es ertönte das stereotype Klingeln ihres Handys, sie ging zur Konversation in italienischer Sprache über, somit hatte er mit seinem IT-Italienisch überhaupt keine Chance. Die versteckten Lautsprecher und das Mikrofon machten es möglich, dass sie ihre Position überhaupt nicht zu verändern brauchte, mit verschränkten Armen sprach sie mit einem unsichtbaren, aber angenehmen Bariton, so als sitze sie in einem Café. Vorn neben dem Chauffeur leuchtete ein großes Navigationsgerät, auf dem der Google-Film des Wenzelsplatzes, der Straßen Mezibranská, Žitná und dann wieder hinab zum Mánes lief, dann nach rechts zum Nationaltheater und zur Karlsbrücke, bis sie einmal um das Prager Stadtzentrum herumgefahren waren und in der Straße Pařížská hielten. Da beendete sie das Gespräch und befahl: »Aussteigen!«

      Sie wartete nicht auf den Chauffeur, sondern öffnete selbst die Tür, geschmeidig glitt sie aus dem Wagen, und Leo hatte zu tun, sie am Eingang des Luxusgeschäfts einzuholen, dessen Türen sich wie durch ein Wunder auftaten, obwohl die Öffnungszeit schon längst vorbei war. Es erwartete sie ein elegant gekleideter Mann, der in fließendem Tschechisch grüßte, während er mit ihr in einem anscheinend passablen Italienisch sprach. Im ersten Stock begrüßte sie ehrfürchtig ein dicklicher Mann mit einem Maßband um den Hals.

      »Geh mit ihm, Leo!« Er folgte also dem Schneider in eine geräumige Kabine, in der ein klassischer »stummer Diener« aus schwarzem Holz stand, der mehrere Textilien trug, nach und nach tauschte er seine Kleidung gegen einen hellgrauen Anzug mit feinen Streifen, ein weißes Hemd mit hohem Kragen, eine Krawatte und ein Einstecktuch, beides ebenfalls fein gestreift, in einer Nuance, in der Grau zu Schwarz wird, schwarze Socken und Schuhe. Der Schneider schwieg ehrfürchtig, doch er nickte jedes Stück freudig ab. Im Spiegel erspähte Leo dann ein wohlgestaltes Mannequin. So erschien er auch dem Chef, der auf Italienisch offensichtlich nicht mit Lob sparte. Auch sie sah zufrieden aus und machte sich auf den Weg.

      »Benissimo. Also dann weiter!« Er wagte es, sich zu Wort zu melden.

      »Und meine Sachen?«

      »Die nimmt man dir nicht weg. Hol sie morgen ab.«

      Schon wieder lief sie vor ihm auf dem Bürgersteig her, an dem gerade der Ghost anlegte, den Chauffeur hatte sie wahrscheinlich schon vorher per Handy gerufen. Leo wollte ihr die Tür öffnen, doch sie ließ sich von links in den Wagen gleiten und rückte von dort aus auf den rechten


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