Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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geblieben. Und so hörte sie auch jetzt die bedrohlichen Eingangstöne zu Prokofjew, die schon von Beginn an den Tod ankündigten – Tjamtadamta tjamtadamta tjamtadamta tiidaa, tjamtadamta tjamtadamta tjamta ...

      »Womit kann ich dienen?« Der Kellner vermutete in ihr eine deutsche Touristin, und sie übernahm diese Rolle.

      »Haben Sie türkischen Kaffee? Aber nicht den orientalischen ...«, erinnerte sie sich, »ich meine den, Sie nennen ihn hier doch turek ...« Das wusste er zu schätzen.

      »Sie waren schon in Prag!«

      »Ja, aber das ist schon lange her!«

      »Macht nichts, den turek machen wir immer noch!« Statt eines Glases mit einer aromatisch duftenden schwarzen Flüssigkeit, die so dick war, dass der Löffel darin stand, brachte er eine Tasse irgendwas, das an zusammengegossenes Wasser aus Kartoffelschalen erinnerte. Als sie jedoch davon trank, war auch ihr Magen sofort wieder zu Hause, der hier und im gegenüberliegenden Gebäude jahrelang dreimal während einer Probe und dreimal während einer Vorstellung nach dieser Brühe verlangt hatte. Seltsam, dachte sie, der Magen und die Sprache sind eigentlich eine übertragene Heimat, die den Menschen nie verlässt. Am Klavier, das zu dieser Zeit noch stumm war, lagen Zeitungen, deren Namen sich verändert hatten, einige waren länger, einige kürzer geworden. Was sie las, vergaß sie gleich wieder, sie nahm nur das Ambiente des Cafés wahr. Fort war die Horde von ausgelassenen Studenten der Filmakademie der musischen Künste, die direkt über dem Café ihren Sitz hatte, verschwunden waren auch die einsamen Rentner, die hier bei Sodawasser ihre Zeitungen lasen, schämten sie sich nun vor den Ausländern oder können sie sich nicht mal mehr das Wasser leisten? Es überwogen hier die fast einheitlich gekleideten Tschechen in Krawatten, die ernst über auf dem Tisch ausgebreiteten Dokumenten diskutierten, sie tippte auf Manager. Ihre Rührung wich, als sie merkte, dass von dieser fast unveränderten Kulisse eine Kraft ausging, die der durchsichtigen Muse ähnelte, die sie auch einst vor ihrer schicksalhaften Aufnahmeprüfung und später fast vor jeder Vorstellung im Nationaltheater ergriffen hatte. Das Klavier ertönte und servierte Musik, die sie schon längst als globalisiert bezeichnete, weil diese sie fast in allen Cafés des Westens sowohl betäubte als auch langweilte, die schon lange ihr einstiges Flair verloren hatten. Sie schaute auf die Uhr, es war fast acht, sie legte eine etwas größere Banknote auf den Tisch, die sie zusammen mit dem Flugticket bereits in Rom bekommen, aber noch nicht gründlich angeschaut hatte, und sie schaffte es gerade in dem Moment auf die Straße, als Peppinos weißer Schoner anlegte. So wie sie es abgemacht hatten, öffnete er nicht die Tür, um nicht den Verkehr zum Erliegen zu bringen, sie sprang behände selbst in den Wagen und wies ihn an, vor der Brücke nach links abzubiegen. Der Fahrzeugplebs stand für den Ghost wie üblich Spalier, alle bremsten, um ihn sich anzuschauen, und nach nicht ganz einer Minute war sie am Mánes, konnte gerade so ihre Stadt- gegen die Tangoschuhe mit einem ordentlichen hohen Absatz eintauschen, Peppino hielt in einer Ecke des Bürgersteigs vor der Abfahrt zum Kai und bekam von ihr die Anweisung, um Mitternacht wieder zu erscheinen, er konnte seine Verwunderung nicht verbergen, dass er so früh kommen sollte, doch sie wollte sich für morgen richtig ausschlafen, wo sie mit dem Prager Genius loci zusammenzutreffen beabsichtigte.

      Im Mánes war sie in ihrem Leben oft gewesen, auf Partys und bei den schicksalhaften Versammlungen des Jahres achtundsechzig, doch vor allem: im Mánes hatte sie zum ersten Mal ihr Viktor der Erste angesprochen, wie sie ihn bezeichnete, um ihn von Vittorio zu unterscheiden; sie war fest entschlossen, gerade heute in allerreinster Form ihre Sehnsucht nach beiden auszutanzen. Wo hier das Tanzparkett war, davon hatte sie keine Ahnung, doch sie bemerkte einen jungen Mann, der wahrscheinlich auch stehen geblieben war, um das beste Auto der Welt in der luxuriösesten Version zu sehen, und sie fragte ihn.

      »Wissen Sie, wo hier heute getanzt wird?«

      Er wusste es: »Unten.«

      »Eine normale Milonga?«

      »Ja.«

      Erst jetzt bemerkte sie, dass er Schuhe im Beutel dabei hatte. »Gehen Sie hin?«

      »Ja ...«

      Nach dem Gesetz aller Milongas auf dieser Welt duzte sie ihn sofort. »Und, hast du eine Partnerin?«

      »Nein ...«

      Zufrieden hakte sie sich bei ihm ein. »Jetzt hast du eine.«

      Leo kam sich vor wie jemand, der urplötzlich von einem Fluch befreit war. Eine tschechischsprachige Millionärin aus Italien, wie das Kennzeichen des göttlichen Wagens verriet, die hier in Jeans einen Partner für einen Tango argentino suchte – davon hatte er bis jetzt nur träumen können. Tschechinnen zahlten selten mehr als einhundertfünfzig Kronen für eine Tanda, bei den Touristinnen überwogen speckige Rucksackträgerinnen, die einen Gegendienst in ihrem Hotel anboten, doch für Sex hatte Leo immer genug Gelegenheit, und vor allem konnte man nicht davon leben. Ein Glücksgriff waren deshalb die Ehefrauen der Prager Diplomaten, die sich wahrscheinlich untereinander geeinigt hatten, dass sie pro Tanda fünfzehn Euro zahlen würden, leider nicht einen Cent mehr, aber glücklicherweise auch nicht weniger, also musste man nicht um sie losen. Die Streichhölzer, das hatte Kája so ausgedacht, wurden auf vier unterschiedliche Längen gestutzt, wenn unter den Süchtigen kein bekanntes Gesicht war und man »blind« wählen musste, dann loste man zumindest um die Hübscheste der Hässlichen.

      Auf dem kurzen Weg, als er sie über die Treppe ins untere Restaurant führte, an die das Tanzparkett angrenzte, überlegte er, wie alt sie wohl sein könnte. Wenn er das stark mit Make-up bearbeitete Gesicht hinzurechnete und den unglaublich schwungvollen Schritt abzog, ergab das ein Mittel von plus minus sechzig. Beide hatten nichts aufzuschieben, und so begleitete sie ihn sofort aufs Parkett, wo bereits getanzt wurde, und gleich fasste sie ihn bei beiden Armen. Ehe sie sich bewegte, forderte sie ihn noch auf: »Sag Julia zu mir. Und du bist wer?«

      »Leo.«

      »Aha. Dann zeig mal, was für ein Löwe du bist!«

      Die Zahlungsmodalitäten erwähnte sie nicht und ließ sich sofort führen. Ab dem ersten Schritt war ihm klar, dass er eine Partnerin hielt, die es drauf hatte. Er wollte aber nicht riskieren, dass sie schnell müde wurde, und so probierte er nur Figuren aus, die sie nicht verletzen konnten und die auch ihn nicht unnötig erschöpften. Wenig später trafen seine Blicke nacheinander Kája, Mirek und Lád’a, sie hatten die einzigen drei Damen unter sich aufgeteilt, die hier heute gut aussahen. Wie unzählige Male eingeübt, signalisierten sie ihm jedes Mal, wenn sie sich bei den Drehungen ins Gesicht sahen, spöttisches Mitleid. Er konnte sich vorstellen, welch gepfefferte Bewertung er hören würde, wenn er sich mit ihnen traditionell in der Pause auf der Toilette traf. Er freute sich darauf, sie dann zu übertrumpfen, doch er wusste noch immer nicht, wie er zu Verhandlungen über Geld gelangen sollte. Und wie wäre es, fiel ihm aus heiterem Himmel ein, wenn er dies absolut ihr überlassen würde? Und was wäre, wenn er sich sogar, er dachte immer intensiver nach, in diesem Falle zu der Millionärin ähnlich galant verhalten würde, wie er sich verhalten hatte, als er ganz normal mit den Mädchen aus der Schule und aus dem Betrieb plänkelte?

      Seine verdrossene Seele begann sich auf einmal leise zu freuen. Nein, sagte er zu sich, er war kein Gigolo und wird vor allem keiner werden! Morgen würde er Robert bitten, ihm ein Treffen mit dem Chef von Sonnymat zu arrangieren, der ihm schon damals angeboten hatte, dass er jederzeit zurückkehren könne. Er würde also zurückkehren, lernen, früh aufzustehen, er würde seine Schulden bezahlen und vor allem denken! denken wie damals, als er beim mündlichen Staatsexamen die Prüfungskommission so sehr beeindruckt hatte, dass sie ihm einstimmig das Diplom »cum laude« zusprach. Er tanzte, wie er es gewohnt war, automatisch, doch dabei recht erfinderisch, damit sie es nicht merkte. Sie schien es ihm in ähnlicher Weise gleich zu tun, somit kamen sie sich gegenseitig nicht ins Gehege.

      Als die Kapelle endlich zur Pause in die angrenzende Bar verschwand, wollte er sich bei ihr entschuldigen, er müsse kurz austreten, da sprach sie das erste Mal nach eineinhalb Stunden und überraschte ihn mit einer Frage: »Du bist mit einer Truppe hier?«

      »Wie, mit einer Truppe ...?«

      »Und ihr seid vier, nicht wahr?«

      Er versuchte, das noch durchzustehen. »Vier


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