Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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solle.

      »Müssen Sie das?«

      »Nein, ich kann auch gleich über Kladno zur Landung ansetzen.«

      »Dann tun Sie das, ich will keine Zeit verlieren.« Sie gab nicht zu, wegen der Silhouette des »Radschin« feuchte Augen bekommen zu haben. Nun nahm sie zum dritten Mal einen Schluck, versteckte den zugeschraubten Flachmann in der Handtasche und richtete entschlossen ihren Blick auf den nahenden Erdboden.

      Sie überflogen ein paar verbliebene Fördertürme, die ihr im Gedächtnis geblieben waren, als sie das letzte Mal von hier aus gestartet war. Von Ruzyně bis fast zu ihnen hatte damals die Sowjetarmee sämtliche Wiesen besetzt, am gesamten Horizont entlang parkten Hunderte Panzer und Militärlaster. »Eklig wie Gewürm!«, hatte Viktor gesagt, und sie hatte den Rest der Strecke nach Rom durchgeweint. Die ehemaligen Felder waren nun unter zahllosen Bauten verschwunden, die für alle Vorstädte westlicher Metropolen typisch waren und die Prag offensichtlich einholen wollte. Da hatte sich auch schon – dafür war Michal besonders bekannt! – die Cessna weich an die Landebahn geheftet, die die Okkupanten 1968 vorzeitig geöffnet hatten, doch die Maschine bog nicht zu dem modernen Komplex ab, der mit Dutzenden Armen ausgestattet war, sondern rollte weiter, von ihnen weg, so als wollte sie sie bis zur Stadtmitte bringen. Erst nach einer Weile erinnerte sie sich an die Information ihres Reisebüros, dass man ihr das bezahlt hatte, was man als »Regierungsflughafen« bezeichnete. Nachdem Michal die Motoren ausgeschaltet hatte, meinte sie, das Flughafengebäude aus ihrer Jugend zu erkennen, wo man seine Bekannten noch direkt bis zu den Flugzeugen begleiten und sie dort auch wieder hatte begrüßen dürfen. Nun parkten hier ein paar kleine Maschinen und vor ihnen ein weißer Rolls-Royce Ghost, neben dem mit Mütze ihr Chauffeur, Kellner, Bodyguard und Mann ihrer Köchin und Zofe, Peppino, stand. Wieder küsste sie das Medaillon und betrat die Vergangenheit.

      II. Leo

      Dieser Freitag war schon seit Mitternacht schwarz. Die Milonga im Prager Stadtteil Karlín endete für ihn mit einem Fiasko, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Die hässliche Engländerin, die ihm dreißig Pfund Sterling versprochen und ihn dann dreimal eine Dreiviertelstunde lang mit ihren Knochen durchbohrt hatte, war endlich austreten gegangen, und so konnte er sich wenigstens etwas erholen, doch sie war recht lange dort, also schickte er eine Garderobendame zu ihr. Durch sie erfuhr er, dass von der Toilette ein weiterer Zugang ins Lokal und von dort aus auf die Straße führte; die Nacht war so warm, dass die Betrügerin keinen Mantel brauchte. Seine Stimmung wurde auch dadurch nicht besser, dass ihn seine Erfindung, »der große Topf«, vor einem totalen Minusgeschäft bewahrte. Den Topf hatte der Rest der Truppe schon im Frühjahr als gute Art einer Kollektivversicherung akzeptiert, er machte mühselige Konkurrenzkämpfe und Betrügereien überflüssig; er bekam aus diesem Gemeinschaftstopf wenigstens sechshundert Kronen, weil die anderen ein anständiges Geschäft gemacht hatten, doch sie verdarben es ihm mit gepfefferten Kommentaren.

      Auf dem Weg nach Hause wurde er unverfroren von einem Taxifahrer betrogen, doch angesichts dessen Bizeps wollte es Leo nicht auf eine Konfrontation mit ihm ankommen lassen. Auf dem Bett fand er einen Brief seiner älteren Schwester Věra, in dem sie ihn recht unsanft aufforderte, endlich die zwanzigtausend Kronen rauszurücken, die sie ihm für einen neuen Laptop geborgt und die er bis Ende vergangenen Jahres versprochen hatte, zurückzuzahlen. In einem Anflug von Hoffnungslosigkeit surfte er im Internet und wollte riskanterweise sein gesamtes Bargeld im Hasardspiel einsetzen, doch zum Glück wusste er sich zu beherrschen. Und beim späten Frühstück rauschte er wieder mit seiner Mutter zusammen.

      Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm vorhielt, die gut laufende Firma, in der er Karriere hätte machen können, verlassen zu haben, doch nie zuvor hatte sie das Wort verwendet, das ihn umso mehr in Rage brachte, als er es schon lange erwartet hatte. Das Gespräch hatte dabei ganz unschuldig begonnen.

      »Robert hat dich angerufen.« Das war sein bester Freund aus der Hochschulzeit.

      »Was wollte er?«

      Noch drei Jahre nach Studienabschluss hatten sie zusammen in der Firma Sonnymat gearbeitet, ehe er gegangen war. Robert hatte nie aufgehört, ihm dies vorzuhalten, und Leo hatte sich deshalb allmählich von ihm zurückgezogen.

      »Dich auf ein Bier einladen.«

      Jetzt freute ihn dies, denn die neue Truppe ging ihm langsam aber sicher auf die Nerven. Robert war ein Grübler, man konnte sich mit ihm immer intelligent unterhalten, außerdem sagte er nicht dreimal in jedem Satz »Spacko« wie Kája, Míra und Lád’a ohne Unterschied; Leo deprimierte am meisten, dass er unwillkürlich selber mit diesem Spacko-Geschwätz begonnen hatte.

      »Hat er mir eine Nachricht hinterlassen, wo und wann?«

      »Du sollst ihn anrufen.«

      Darauf nahm das Gespräch eine jähe Wende: »Er hat mich gefragt, was du jetzt machst.«

      »Und was hast du ihm gesagt?«

      »Was hätte ich denn sagen sollen?«

      »Na, dass ich auf Bestellung Webseiten kreiere!«

      »Und tust du das?« Er wurde langsam wütend.

      »Das tue ich!«

      »Und was ist das eigentlich?«

      »Mama, du hast dich während meines gesamten Studiums nicht dafür interessiert, jetzt wirst du das kaum mehr verstehen!«

      »Und Papa versteht das?«

      »Papa weiß das!«

      »Und weshalb fragt er mich dann, womit du dein Geld verdienst?«

      »Er fragt dich? Warum?«

      »Wahrscheinlich deshalb, weil ich tagsüber mit dir zu Hause bin.«

      »Dann musst du doch auch am besten wissen, womit ich mein Geld verdiene.«

      »Na, mit diesen Seiten wahrscheinlich nicht.«

      »Wie willst du das wissen?«

      »Weil du immer, wenn ich in dein Zimmer schaue, schläfst.« Er geriet in Rage.

      »Du spionierst mir also hinterher?? Meine eigene Mutter?«

      »Und wer anderes sollte dich warnen?«

      »Wovor denn bitte schön!!«

      »Leo, was soll eine Mutter machen, die auf ihren Sohn stolz war, weil er mit lauter Einsen sein Studium absolviert hatte, wenn er jetzt mit Tanzen sein Geld verdient?« Das traf ihn.

      »Wer hat dir das gesagt?«

      »Ich bin dir gestern hinterhergegangen.«

      »Wohin ...?«

      »Nach Karlín.«

      »Wie bist du, bitte schön, auf die Idee gekommen, mich in Karlín zu suchen?«

      »Das stand in deinem Kalender ...«

      »Mama, ich verbitte mir, dass du meine Sachen durchsuchst, als wäre ich in der Pubertät, ich bin ein erwachsener Mann!!« Und dann fiel das Wort.

      »Wie kann ein erwachsener und studierter Mann einen Gigolo abgeben ...?«

      Er schaute sie an und konnte nicht antworten, deshalb tat er das Einzige, wozu er in diesem Moment in der Lage war: er rannte aus der Küche, knallte die Tür zu, holte sein Sakko und den Beutel mit den Tanzschuhen aus seinem Zimmer und warf anschließend auch noch laut die Wohnungstür hinter sich zu. Ja, das Wort hatte sich ihm schon lange in sein Gehirn gegraben wie ein Wurm in einen Apfel, doch erst ausgesprochen bekam es die abstoßende Form, die auch ihn schreckte. Es stimmte, sämtliche Bemühungen, vom Computer unbeleckten Senioren die Verwaltung von Webseiten anzubieten, waren ohne Reaktion verhallt. Es stimmte auch, dass er seit dem Moment, in dem sein Sozialversicherungsanspruch erloschen war, nur von dem gelebt hatte, was er sich »ertanzt« hatte. Es stimmte, dass er sich in gefährlicher Weise daran gewöhnt hatte. Es stimmte sogar auch, dass dies von Anfang an recht viel Geld abwarf, denn der argentinische Tango war gerade »in«, öffentliche und private Milongas kamen in Mode und fanden in Prag und der weiteren


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