Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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Beitrag zum Haushalt zu entrichten, wenn er schon dort lebte, ohne Wohnung und Verpflegung bezahlen zu müssen. Und vor allem stimmte es, dass er spürte, wie er sich langsam aber sicher erniedrigte und dabei wahrscheinlich nicht mehr in der Lage war, diesen Prozess irgendwie aufzuhalten.

      In diesem Zustand ratloser Gereiztheit streifte er ein paar Stunden ziellos durch die Straßen, bis ihm die Füße wehtaten. Bis zur heutigen Milonga dauerte es noch ein Stück des Nachmittags, das er am liebsten verschlafen hätte. Da er nicht wusste, wo und wie er für den Abend Kraft schöpfen konnte, kam er auf den Gedanken, sich im Multikino am Anděl eine Karte für die nächsten zwei Vorstellungen zu kaufen, und er hatte Glück: beide Filme waren so langweilig, dass es ihm wirklich gelang, auch mit der notwendigen Pause, zweimal für neunzig Minuten einzuschlafen. Anschließend stellte er fest, dass er sogar Verspätung hatte und die Truppe ohne ihn beginnen würde, was ihn mit seinem heutigen Pech bei der Auswahl der »Süchtigen«, wie sie die begierigen Damen bezeichneten, um die sie am Anfang losten, benachteiligen würde, denn er hatte meistens das Glück des »ersten Abfischens«. Als er auf dem Jirásek-Platz aus der Straßenbahn ausstieg und zum Lokal Mánes spurtete, wurde er beinahe von einem so herrlichen Auto überfahren, dass er auf dem Bürgersteig stehen blieb und mit den Augen die weißglänzende Limousine der Marke Rolls-Royce verzehrte, die die höchste Typenbezeichnung Ghost, also Geist, trug und die Prager Kreuzung wirklich wie eine Erscheinung passierte. Er lief ihr ein Stück hinterher und sah von Nahem, wie der Chauffeur die hintere Tür öffnete und sich die hohe Mütze vom Kopf zog. Eine alte Dame in jugendlichen Jeans stieg aus.

      III. Prag

      Prag zeigte ihr sein freundlichstes Gesicht und begrüßte sie mit dem schönen Wetter des bevorstehenden Sommers. Signore Bartolo, der Direktor ihres Lieblingsreisebüros in Rom, der sich wie ein hoher kirchlicher Würdenträger bewegte und auch so sprach, hatte zweifelsohne die Leitung des Prager Grandhotels mit seinen Mails, Anrufen und Interventionen über Skype so gedrillt, dass diese sich auf sie ebenso vorbereitet hatte wie auf Obama. Als Peppino, der schon einen Tag zuvor mit den Koffern angekommen war und im Flughafenhotel geschlafen hatte, vor dem Haupteingang vorfuhr, so als sei dort eine weiße Yacht gelandet, öffneten die Boys in Livree gleichzeitig beide Flügel der Eingangstür, und der Hoteldirektor sprach sie, eine Rose in der Hand haltend, in englischer Sprache mit dem richtigen Titel an – »Serene highness!« – also »Prinzessin«. Natürlich hatte er für sie dieselbe Suite wie für den amerikanischen Präsidenten hergerichtet, denn Bartolo hatte sicher auch nicht versäumt anzudeuten, dass sie als Witwe eines Mannes, der darüber hinaus viele Jahre Senator war, auch weiterhin Mitglied des Klubs führender italienischer Politiker und vor allem des europäischen Hochadels sei. Allerdings wusste er nicht und konnte deshalb das Personal nicht darauf aufmerksam machen, dass sie Tschechisch sprach, somit sprachen anfangs alle mit ihr Englisch, während sie das Vergnügen hatte, solche Aufforderungen zu verstehen wie »Franta, du sollst ihr die Aufzugtür aufhalten!« oder »Idiot, zerkratz den teuren Koffer nicht!«. Sie wollte nicht, dass sich daraus ein riesiger Skandal entwickelte, deshalb gab sie ihr Geheimnis schnell preis und betonte, die paar Bemerkungen überhört zu haben. Wiederum amüsierte sie, dass der »Idiot mit dem Koffer«, als er sich für das reichliche Trinkgeld mit einem Diener bedankte, sie mit »Frau Prinzessin« ansprach. Im selben Augenblick stellte sich die Hoteldame mit ihrer Assistentin ein, unter ihrer Leitung wurden alle Sachen aufgehängt und verstaut. Aus ihrem Gesichtsausdruck schloss sie, dass selbst die schöne Frau Obama keine drei Paar Tanzschuhe mit sich geführt hatte.

      Dann nahm sie einen weiteren Schluck irischen Whisky, legte sich in die Wanne für zwei, schaltete Whirlpool und Fernseher gleichzeitig ein und sah die ersten tschechischen Nachrichten seit den letzten vierzig Jahren, in denen dem Idol des Prager Frühlings, Alexander Dubček, Tränen in den Augen standen, nachdem die erschöpften Reformatoren und zufriedenen »Konservativen« aus Moskau zurückgekehrt waren, wo man gerade den »vorübergehenden Aufenthalt der Bruderarmee« in der Tschechoslowakei, die somit zum sowjetischen Gubernium wurde, unterschrieben hatte. Ihr Viktor bezeichnete den Versuch, den Totalitarismus zu demokratisieren, von Anfang an als kindlich naiv. »Ein Hase bringt dem Bären nicht bei, Gras zu fressen!« Das Ergebnis des Eintauschs des bösen Fridolin Novotny gegen den braven Pierrot Dubček kommentierte er mit einem Bonmot: »Ein alter Saustall mit neuem Personal«. Und das Weinen des Ersten Sekretärs über das Ergebnis der Moskauer Gespräche, dessen Kern den Bürgern verborgen blieb, widerte ihn förmlich an. »Die Unterstützung von fünfzehn Millionen im Rücken zu haben, in denen sich die Okkupationsarmee wie Zucker auflöst, und alles derart zu vergeigen, dafür müsste sich jeder ehrliche Politiker erschießen!« In Rom konnte man kein tschechisches Fernsehen empfangen, und nach Viktors Tod begann sie, die Zeitungen, die ihnen Bekannte aus Prag über verschiedene Boten geschickt hatten, ungelesen wegzuwerfen. Die Exilzeitungen lasen sie schon seit längerer Zeit nicht mehr, denn den eingefleischten Demokraten Viktor hatten ihr primitiv radikaler Antikommunismus und auch die Kleinkriege der verschiedenen Emigrantenwellen abgestoßen. »Im Totalitarismus Winzlinge, in der Freiheit Riesen!« Was sie jetzt von der Badewanne aus sah, waren die Bilder des Lebens eines unbekannten Landes, wo sich selbst die Sprache verändert hatte, an eine so nachlässige Aussprache konnte sie sich nicht erinnern. Von allen Gesichtern sprach sie nur das von Präsident Havel an, der gerade seinen ersten Film drehte.

      Als er im ersten Jahr seines Präsidentenamtes während eines Staatsbesuches auch nach Capri gekommen war, hatte sie dort gerade, schon mit Giorgio, die traditionellen Ferien im Quisisana verbracht, und für das Bankett in dem berühmten Hotel erhielt sie natürlich eine Einladung. Kaum hatte sie Havel tschechisch begrüßt, gab er ihr den Vorzug vor seinem eigenen Dolmetscher. Und als er festgestellt hatte, wer sie war, wich er nicht mehr von ihrer Seite und verbrachte entgegen dem Protokoll mit ihr den größten Teil des Abends. Er habe sie zwar nie, entschuldigte er sich, im Nationaltheater tanzen sehen, doch er habe sie als Star verehrt, der alle großen Diskussionstribünen des damals weltbekannten politischen Prager Frühlings geziert habe. Er habe auch Viktor gekannt, doch er war zu gut erzogen, als dass er die Witwe gefragt hätte, warum der große Dichter damals nirgendwo teilgenommen habe, somit sei er dann nur ihretwegen emigriert. Ein bisschen hatte sie sich in Havel auf Capri verliebt, er war damals ein faszinierender Mann auf dem Höhepunkt seiner Kräfte, vergöttert von der freien Welt. In dem TV-Spot erinnerte er sie jetzt in fast erschütternder Weise an den ermatteten Viktor und auch an Vittorio in den letzten Monaten ihres Lebens, und sie wurde von Traurigkeit übermannt. Ehe diese jedoch sich in ihr festsetzen konnte, stieg sie aus der Wanne, trank ein weiteres »Hütchen« und setzte sich an den Computer.

      Fünf Minuten später wusste sie, dass der Argentino heute in dem guten alten Restaurant Mánes getanzt würde, fast erschrak sie ob dieses schicksalhaften Refrains. Zehn Minuten später zog sie Sportkleidung an, und nach einer halben Stunde hatte sie mit Make-up neben Dutzenden von Falten auch ein paar Jahrzehnte mit weggewischt. Sie wagte es nicht, gleich beim ersten Mal durch diese ihr fremd gewordene Stadt zu Fuß zu gehen, und so fuhr Peppino sie ins Slavia. Am Nationaltheater zitterten ihr vor Erregung die Knie. Sie gab ihm die Anweisung, genau um acht wieder hier vorzufahren, und sie versuchte, schneller ins Café zu gelangen, als die an der Straßenbahn wartenden Gaffer die Aufmerksamkeit von der weißen Limousine auf sie übertragen hatten. Eine Sekunde später fühlte sie sich so, als hätten Engel sie nun kopfüber in die Stadt ihrer Jugend getragen.

      Sie konnte nicht beurteilen, ob sie die ursprüngliche Möbelgarnitur sah, doch sie glaubte daran, als sie die durchsichtige grüne Muse sah, die auf dem Tisch eines Absinth-Trinkers saß, das berühmte Bild hing schon dort, als sie das erste Mal nach Prag gekommen war, und zwar gleich mit dem festen Entschluss, die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium zu absolvieren. Damals hatte sie allein dagesessen – die Eltern waren längst tot, bis auf ihren »Fast-Vater«, wie sie ihn nannte, dem sie es dann stolz heimzahlte, dass er sie völlig verleugnete, nachdem er der Mutter weggelaufen war –, wie auf ein Märchenschloss hatte sie von hier aus bei Sodawasser auf die beiden Trigen geschaut, die sich über dem Nationaltheater erhoben, und sie träumte einen unerfüllbaren Traum. Diese Erinnerung wurde aus dem Meer von Applaus hervorgespült, den sie sieben Jahre lang als Coppélia, Odetta und Odile oder Julia, ihre Namensvetterin, auslöste. Auf diesen Namen verzichtete sie dann in Italien aus nüchternen Gründen durch die Annahme der italienischen Variante Giulietta, der sich dort besser aussprechen


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