Tango mortale. Pavel Kohout

Tango mortale - Pavel Kohout


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die den Zutritt einfacher Leute verhinderten. Leo kannte man, und wahrscheinlich brauchte man ihn hier, damit der Laden lief, weshalb er sich schon im Wagen leicht unwohl fühlte. Sie spürte das und gab ihm das Geld vorher, damit er alles Notwendige für sie zahlen konnte. Obwohl sie erst nach zehn eintrafen, forderte sie ihn schon halb zwölf zum Gehen auf und lud ihn auf der Straße wieder in ihr fahrendes Apartment ein. Er sah aus, als interpretierte er dies auf seine Art, und sie amüsierte sich ob seiner Verlegenheit und über seine Überraschung, als sie hinter der Karlsbrücke nicht zum Hotel weiterfuhren, sondern zur Mánes-Brücke abbogen und dann an den Chotek-Gärten die Serpentine hinaufglitten. Ein paar Minuten später fuhr der Ghost vom Pohořelec aus auf den Hradschin-Platz, wo er an der Masaryk-Skulptur hielt. Kaum hatte Peppino die Tür geöffnet, nickte sie auch Leo zu, er solle aussteigen und ihr folgen.

      Sie blieb jedoch schon nach ein paar wenigen Schritten an einer Metalltafel am Gittertor des äußersten Palais stehen.

      »Seit wann ist hier die Nationalgalerie?«

      Er zuckte mit den Achseln, und sie machte sich bewusst, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu fragen. Sie schritt weiter, gleichzeitig eröffnete sich ihr das magische Bild, wie sie es Tag und Nacht so viele Jahre lang gesehen hatte, die Silhouette Prags, verbunden durch die Naht des Flusses, eingerahmt auf der einen Seite vom Strahov-Kloster und auf der linken durch die weiße Masse der Burg. Das Matthias-Tor war schon geschlossen, nirgendwo war eine Menschenseele, nur sie beide und Peppino, der neben dem Auto stand, reglos wie die Skulptur des ersten Präsidenten über ihm. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den steinernen Sims, steckte eine Zigarette in die Spitze, zündete ihren kleinen Goldbarren mit der Bezeichnung Dupont an, und als sie den Rauch ausstieß, erklärte sie diesem Jüngling: »Hier bin ich eine Ewigkeit nicht gewesen.«

      »Wie lange?«

      »Wie alt bist du eigentlich?«

      »Fünfundzwanzig ... bin ich geworden.«

      »Dann fast zwei deiner Leben lang.«

      »Mensch ...« Warum erzähle ich ihm das eigentlich? wunderte sie sich, was kann er schon darauf sagen? Und gleichzeitig tauchten in ihr die Erinnerungen an die Klänge dieses wahnsinnigen Abends auf, an das fürchterliche Rasseln der Panzerketten, die vom Kopfsteinpflaster abprallten, russische Befehle und die ohrenbetäubende Salve aus einem Maschinengewehr und schließlich das unbeschreibliche Geräusch, als die Kugeln das Fensterglas durchschlugen und sich in die Bücherrücken über dem gegenüberliegenden Bett bohrten.

      »Da oben rechts, unter diesem Fenster, müssten im Putz noch Kugeln stecken.«

      »Welche Kugeln ...?«

      »Aus einem Maschinengewehr. Irgendeinem sowjetischen Panzerschützen sind die Nerven durchgegangen.«

      »Meinst du am Ende des Krieges?«

      »Ich meine im August achtundsechzig. Aber das ist ja für dich schon fast wie Französische Revolution, stimmt’s?«

      »Nein, das nicht, aber ich weiß das nur von meinen Eltern, am Gymnasium hat uns irgend so ein ehemaliger Bolschewik unterrichtet, der ist sicherheitshalber nicht über das Ende des neunzehnten Jahrhunderts hinausgegangen, und an der Hochschule war dann keine Zeit mehr ...«

      »Vor allem aber kein Interesse, oder?«

      Er wehrte sich: »Die Informationstechnologie schreitet so schnell voran, dass man zu tun hat, Schritt zu halten!«

      Sie schluckte die Frage herunter, wie ihm dabei der Tango helfe, und in diesem Moment fragte er: »Und wie siehst du das? Mit den Kugeln?«

      »Ein paar sind bei uns im Zimmer gelandet. Wir haben dort gewohnt, ehe wir nach Rom gegangen sind.«

      »Wer?«

      »Mein Mann und ich.«

      »Hat er auch getanzt?«

      »Er war Schriftsteller ...«

      »Aha ...« Er hatte wohl den Eindruck, dass er aus Anstand noch mehr Interesse zeigen sollte. »Wie hieß er?«

      Die Erinnerung, die sie eben noch überkommen hatte, wich der Ironie. »Leo! Wann hast du zum letzten Mal ein Buch gelesen??«

      Er gab es zu. »Naja ...«

      »Dann frag nicht ... übrigens hat er es nicht bis in die Schullesebücher geschafft. Er war nur ein armer Emigrant und ist kurz darauf gestorben.« Aus seinem Blick zu Peppino und auf den Rolls-Royce verstand sie, was ihm durch den Kopf ging. »Hast du irgendwann schon mal den Namen La Scala gehört?«

      »Nein ...«

      Sie nickte in Richtung Mitte des nächtlichen Panoramas, wo immer noch das Goldene Kapellchen strahlte.

      »Das ist gewissermaßen das italienische Nationaltheater, in Mailand.«

      »Aha ...«

      »Die kannten mich schon von hier, sie haben uns zu einem Gastspiel eingeladen, und dann habe ich dort getanzt bis zur Ballettrente. Mein Viktor hat gern gesagt: Die Scala hat dir heute so applaudiert, dass sie fast geplatzt wäre. Und ein Jahr nach seinem Tod hat dann dort ein Prinz um meine Hand angehalten.«

      »Ein Prinz ...?«

      »Hier wäre das ein Fürst. Vittorio Francesco Vicenzo Mortadini. Seitdem bin ich römische Prinzessin, und weil er amtlich seine zwei Brüder hat enterben lassen, weil sie Mussolini und Hitler unterstützt haben, wenn dir diese Namen etwas sagen, so wird mit mir, die ich nun schon zum zweiten Male Witwe bin, dieses Geschlecht völlig aussterben.«

      Sie verfolgte seine Reaktion, weil irgendwo gerade die einzige diensthabende Kirche Mitternacht geschlagen hatte und die Sehenswürdigkeiten eine nach der anderen erloschen. Sie winkte Peppino heran, der sofort vorfuhr. Schweigend gelangten sie zum Hotel, wo der offensichtlich angespannte Leo fast mit dem Chauffeur zusammenstieß, weil auch er ihr eifrig die Tür aufhalten wollte. Sie stieg aus, steckte ihm ein paar Banknoten in die Tasche des neuen Sakkos und reichte ihm die Hand.

      »Morgen reise ich ab. Also ciao, Leo.« Damit hatte sie ihn so überrascht, dass er sie wieder zu siezen begann.

      »Sie kommen nicht mehr zurück ...?«

      »Vielleicht in einem halben Jahrhundert.«

      »Das ist schade.«

      »Warum?«

      »Wir sind doch gut miteinander ausgekommen ...«

      »Und ich zahle gut, nicht wahr?«

      Nickend stimmte er zu, also war er so gereift, dass sie ihm anbieten konnte, was sie seit dem Vortag im Sinn hatte.

      »Dann komm doch mit.«

      »Wohin ...?«

      »Ich mache eine Rundreise durch mein Leben.«

      »Und wie lange ...?«

      »Das weiß ich nicht. Aber wenn du keine Zeit hast, dann ist das kein Problem. Ich finde sicher jemanden.«

      Worauf er sich blitzschnell so entschloss, wie sie es erwartet hatte. »Ich nehme mir die Zeit.« Und schon hatte sie ihn.

      »Also dann morgen um eins und nimm deine persönlichen Dokumente mit. Wir beginnen mit einem Mittagessen, im Hotel haben sie mir Brotsuppe mit Knoblauch, Lendenbraten und Erdbeer- und Aprikosenknödel mit Quark versprochen. Hol vorher deine alten Sachen ab, der Anzug gehört dir schon.«

      Mit einem Kasino hatte die Kneipe dieses Namens nichts gemein. Es war ein richtiges Lokal, wo ein gepflegtes Pilsener gezapft wurde. Letztes Jahr hatten ihn die drei hierher mitgenommen, als er das erste Mal als attraktiver und deshalb gefährlicher Konkurrent auf einer Milonga aufgetaucht war. Ursprünglich sah es so aus, als wollten sie ihn in der Pause klassisch auf dem WC durchwalken, einer hatte gegen drei keine Chance, doch es war ihm glücklicherweise schon dort gelungen, sie davon zu überzeugen, dass er ein würdiges Teammitglied sein könne, wo er doch beim Tango x-mal mehr Variationen beherrschte als sie und bereit war, mit ihnen pari-pari zu teilen. Den Vorteil des »großen Topfes« erkannten sie gleich beim nächsten


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