Zart und frei. Dr. Carolin Wiedemann
1.2Postfeminismus, Neopatriarchat und die Rückkehr der Kritik
Um 2010 prägte die Gender-Forscherin Stevie Schmiedel den Begriff »Pinkifizierung«, und er schien perfekt zu beschreiben, was sich damals zeigte: die Rückkehr des Sexismus und seine Verbreitung bis ins Kinderzimmer. Plötzlich waren alle Spielzeugartikel nach Geschlechtern getrennt, sogar Überraschungseier gab es extra für Mädchen – in rosa. Welch Rückschritt, dachten wohl alle, die in den Jahrzehnten zuvor aufgewachsen waren. In den Achtzigern hatte ich als Kind selbstverständlich blaue T-Shirts und kurze Haare tragen können und war im Freibad nur mit einer Badehose bekleidet ins Becken gesprungen. In den Nullerjahren aber zog man plötzlich schon Babys Bikini oder Badeanzug an – den Mädchen, auch wenn sie erst ein paar Monate alt waren. Und als ich in einer Kinderboutique für den Säugling meiner Freundin die graue statt die rosa Spieluhr wählte, rief die Verkäuferin empört: »Aber es ist doch ein Mädchen!« und wickelte den Plüschstern gleich zweimal in fliederfarbenes Geschenkpapier. Der Zwang zur Binarität war zurück, analysierten feministische Autor*innen. Kleine Kinder sollten wieder zu einem alten Stereotyp hin erzogen werden. Das Mädchenaccessoire der 2000er schlechthin, Prinzessin Lillifee, war dessen Repräsentantin: niedlich, roter Kussmund, Wespentaille, pudert sich gern die Nase und backt Kuchen.
Doch das war nicht die Rückkehr der Binarität, das war keine Rückkehr des Sexismus. Erstens hatte es keine Sexismus-freie Zeit gegeben. In den Achtzigerjahren konnte ich als Kind zwar kurze Haare und blau tragen und etwa auch den Wunsch äußern, Ingenieurin zu werden, ohne dass jemand irritiert schaute. Doch wirkten weiterhin jahrhundertealte Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern fort. Zweitens gab es einen zentralen Unterschied zu jenem Früher, aus dem der Sexismus angeblich zurückkam. Das, was in der »Pinkifizierung« tatsächlich zum Ausdruck kam, war ein neuer Sexismus, der denen, die als Mädchen galten, ein anderes Ideal vermittelte, der sie ganz anders adressierte als der Sexismus der Fünfzigerjahre. »Cinderella ate my daughter«, schrieb dazu die amerikanische Autorin Peggy Orenstein und zeichnete die Entwicklung und Veränderung des Sexismus am Wandel Aschenputtels nach: Die alte Cinderella sei eine Erwachsene gewesen, die neue ein Teenager: ein Teenager, dessen Dekolleté tiefer, dessen Taille schmaler, dessen Lippen pinker und dessen Haare blonder waren als bei Aschenputtel, und der das Gegenüber keck anflirtete – Aschenputtel war zu Paris Hilton geworden.
Die neuen Mädchen sollten süß und sexy sein. Und dieses Leitbild fand sich längst nicht nur in der Spielzeugabteilung. Die Vogue fotografierte 2011 das Model Thylane Loubry Blondeau auf einem Tigerfell: ihre perfekt geschminkten Augen lasziv in die Kamera blickend, die langen Haare in einer aufwendigen Hochsteckfrisur, die glatt rasierten Beine in die Luft gestreckt, an den Füßen Stilettos – sie war da gerade zehn Jahre alt. Im gleichen Jahr trug die dreijährige Lexci aus Heanor, Derbyshire, bei den ersten Mini-Miss-Wahlen in Großbritannien High Heels und einen Bikini-artigen Zweiteiler. Und bei Germany’s Next Topmodel hießen die konstant halbnackten Kandidatinnen 15 Jahre lang »die Mädchen«, wobei mehr als ein Drittel der Zuschauer*innen vor dem Fernseher zwischen drei und 13 Jahre alt war und selbst nichts lieber wollte, als sich in der Sendung auszustellen.
Wie war es dazu gekommen?
Wie erwähnt hatten die Feminist*innen der zweiten Welle in den Augen derjenigen, die vom Patriarchat profitierten, bereits zu viel erreicht. Ronald Reagan, einer der ersten prominenten Advokaten des »Backlashs«, behauptete schon in den Achtzigerjahren, dass an der zunehmenden Arbeitslosigkeit nicht so sehr die Rezession schuld sei, sondern viel mehr berufstätige Frauen, die den Männern immer mehr Jobs wegnähmen. Und tatsächlich war es ja auch so, dass in dieser Zeit immer mehr Frauen berufstätig wurden, was sowohl an den Erfolgen der zweiten feministischen Welle lag, die Zugänge erkämpft hatte, als auch daran, dass gleichzeitig der Dienstleistungssektor wuchs und Arbeitskräfte mit vermeintlich weiblichen Eigenschaften, Kommunikationsfähigkeit und Fleiß, benötigte. Die alte Geschlechterhierarchie geriet also weiter ins Wanken: Frauen machten Männern beruflich Konkurrenz und manchen Ehemann in seiner Rolle als Ernährer überflüssig. Gerade diejenigen, die finanziell unabhängig wurden und aufstiegen, mussten sich ab da in Acht nehmen, nicht geächtet zu werden.
1991, als Susan Faludi diesen »Backlash« in den USA in ihrem gleichnamigen Buch analysierte, lauteten die Schlagzeilen deutscher Zeitungen alarmiert »Wegen der Karriere – Frauen geben Kinder zur Adoption frei« (Münchner Abendzeitung) oder »Sozialer Notstand: Vernachlässigte Kinder!« (Stern); »Karrierefrauen« galten als egoistisch, und diejenigen, die noch vom Patriarchat sprachen, als hysterische Emanzen oder verbitterte Linksradikale.
Die Ära des Postfeminismus war angebrochen, und in dieser Ära, so zeigt es vor allem die britische Autorin Angela McRobbie in ihrem Buch Top Girls, hatten Frauen »ihre Weiblichkeit« besonders zu beweisen: Sie mussten sich davor schützen, als Lesbe oder Mannsweib abgestempelt zu werden, je mächtiger (also »männlicher«) sie wurden, desto mehr. McRobbie analysierte diese »postfeministische Maskerade« anhand der extrem populären Figur der Bridget Jones, die mit allerlei Schmuck und Schminke ihre Rivalität mit den Männern in der Arbeitswelt maskierte. (Jungen) Frauen wurde zwar ein besserer Zugang zu bestimmten Freiheiten und Möglichkeiten eingeräumt (wie sexuelle Autonomie und berufliche Chancen), allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie sich vom Feminismus als einer kollektiven politischen Bewegung für radikale gesellschaftliche Veränderung distanzierten.
Der Neoliberalismus war zu dieser Zeit dabei, sich als vermeintlich ideologiefreie Ideologie zu verbreiten und die Leute immer mehr glauben zu machen, das Schicksal läge jeweils in ihrer eigenen Hand: Wer an sich arbeite, habe auch jede Chance auf Aufstieg, denn strukturelle Diskriminierung gehöre in den liberalen Gesellschaften der Vergangenheit an. Alle könnten Erfolg haben, und diejenigen, die es nicht schafften, seien wohl selber schuld, würden sich nicht genug anstrengen. Der Neoliberalismus vertrug sich also bestens mit dem Postfeminismus, der die Gleichberechtigung der Geschlechter aufgrund formal gleicher Rechte für verwirklicht hielt, und so ignorierte, dass das Bild der Frau als Objekt, das dem Mann gefallen müsse, bestehen blieb und damit sogar noch stärker wurde.
So kam es schließlich, dass sich Anfang der Nullerjahre kaum noch jemand Feminist*in nannte und dass diejenigen, die dann doch als Teil der sogenannten dritten Welle versuchten, Feminismus wieder cool zu machen, permanent betonten, wie sehr sich ihr Feminismus von dem der früheren Frauenbewegung unterscheide. Und das tat er eben auch: Er hatte keinen Begriff vom Patriarchat mehr und war selbst oft neoliberal geprägt. So schrieben junge, vermeintlich feministische Autor*innen etwa, bei den Feminist*innen »alten Typs« handle es sich um »ungeschminkte Birkenstockträgerinnen«, die dem weiblichen Freiheitsrecht auf »knappes Outfit«, »High Heels« und »Brustvergrößerung« im Wege ständen.
Angela McRobbie befand 2009, das Patriarchat habe sich in den Bereichen Mode und Beauty reterritorialisiert, habe also in diesen Bereichen auf neue Weise Fuß gefasst. Beatrix Campbell nennt die Epoche, die damals begann, »neoliberales Neopatriarchat«.
Und da sind wir auch 2020 noch: Junge Frauen wollen, sollen, dürfen schön, süß und sexy sein, dem Chef gefallen und dafür Diäten, Pilates und Gesichtsmasken machen. Einem Bild entsprechen, das Burn-out und Magersucht erzeugt und ganze Industrien belebt von Kosmetikkonzernen über Fernsehshows und Fotoportale bis zu Spielzeugfirmen. Die Garderobe der dreijährigen britischen Schönheitskönigin Lexci kostet monatlich 400 Pfund. Um »sexy« zu sein, geben acht- bis zwölfjährige Amerikanerinnen im Jahr mehr als 480 Millionen Dollar für Schönheitsprodukte aus. In Deutschland ist die Zahl der Faltenunterspritzungen und Botoxbehandlungen allein von 2017 auf 2018 um 15 Prozent gestiegen – laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie seien die meisten Kundinnen aus der Generation »Selfie« und damit Frauen, die nach 1995 geboren wurden, die also noch kaum Falten haben.
Doch ein Selfie kann eben nie perfekt genug sein. Instagram und Co befeuern mit den Bewertungsfunktionen die wechselseitige Überwachung der Arbeit am eigenen Bild und an sich selbst, sie legen eine Peer-to-peer-Beobachtung nahe, die den unternehmerischen Geist der Menschen im Neoliberalismus anspricht. Und die besonders gut bei denjenigen funktioniert, die im Patriarchat schließlich auch noch als Frauen sozialisiert werden, also lernen, sich ohnehin permanent von außen zu betrachten, anderen