Zart und frei. Dr. Carolin Wiedemann

Zart und frei - Dr. Carolin Wiedemann


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Einkommensunterschied zwischen denen, die als Männer gelten, und denen, die es nicht tun, kaum jemand spricht.

      Dabei konnte sich dieser in den postfeministischen Zeiten fast unbemerkt über Jahre hinweg halten: 2019 lag der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern in Deutschland immer noch bei rund 20 Prozent. Frauen verdienten pro Stunde durchschnittlich 16,59 Euro brutto, Männer 21 Euro. Und selbst innerhalb des »Gesundheitsund Sozialwesens«, wo deutlich mehr Frauen als Männer arbeiten, sah es genauso aus. In keiner Branche verdienten Frauen mehr als Männer.

      Der Gender Care Gap war sogar noch eklatanter als der Pay Gap. Denn was Frauen neben Sexyness 2020 natürlich immer noch vorweisen müssen – Prinzessin Lillifee steht mit ihrem Kussmund und dem Kuchenblech dafür –, ist die Fähigkeit, ein schönes Zuhause zu gestalten und sich liebevoll um die Kinder zu kümmern. Obwohl sich die Beschäftigungsquote von Frauen von 1992 bis 2017 (da wurde das Gutachten zum Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung verfasst) von 60 auf 80 Prozent vergrößert hat, verbrachten Männer 2017 kaum mehr Zeit mit den fürsorglichen und haushälterischen Tätigkeiten als damals. Erwachsene Frauen in Deutschland verrichteten im Durchschnitt täglich 87 Minuten mehr Care-Arbeit als Männer, sie wendeten 2017 also immer noch gut anderthalbmal so viel Zeit für unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit auf wie Männer. Am krassesten war der Unterschied in heterosexuellen Paarhaushalten mit Kindern, also in der Kleinfamilie. Dort übernehmen selbst dann die Frauen im Schnitt zuhause noch nebenbei all die unbezahlten Aufgaben, wenn sie deutlich mehr verdienen als ihre Partner, wenn sie also Haupternährerinnen sind und Vollzeit arbeiten, wie Sarah Speck und Cornelia Koppetsch in ihrer Studie Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist zeigten.

      Da ist es auch kein Wunder, was passiert, wenn heterosexuelle Eltern sich trennen: Kinder bleiben in neun von zehn Fällen nach der Trennung der Eltern bei der Mutter.

      Ebenfalls wenig überraschend ist, was sich in Corona-Zeiten zeigte. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin zur Zufriedenheit der Menschen mit der Arbeitssituation im Homeoffice während der Schließung von Kitas und Schulen ergab: Frauen waren unzufriedener als Männer. Genauso wenig erstaunlich ist die Tatsache, dass Herausgeber*innen wissenschaftlicher Zeitschriften vermeldeten, Einreichungen von Männern seien in den Wochen des Shutdowns um 50 Prozent gestiegen, während alle anderen Wissenschaftler*innen quasi überhaupt keine Texte mehr vorlegten. Letztere waren wohl mit den Kindern beschäftigt, während diejenigen, die als Männer gelten, dachten, sie müssten anderen zu dieser Gelegenheit mal wieder die Welt erklären.

      Wozu sie schließlich permanent angeregt werden angesichts der Vorbilder überall: Auch in der Arbeitsgruppe der naturwissenschaftlichen Nationalakademie Leopoldina, die für die Bundesregierung das wichtigste Corona-Gutachten erstellte, waren unter den 26 Expert*innen nur zwei Frauen – von nichtbinären Menschen ganz zu schweigen.

      Wenn Frauen ihren Job neben der permanenten Kinderbetreuung im Corona-Frühjahr nicht mehr erledigen konnten, wenn sie etwa arbeitslos wurden – wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigte, wurde ihnen während der Krise deutlich häufiger gekündigt als Männern –, bestätigten sie nur weiter die Statistik: Von (Alters-)Armut waren sie sowieso schon stärker bedroht. In den vergangenen Jahren bekamen Frauen um ungefähr 50 Prozent niedrigere Renten als Männer.

      Die Krise brachte die Muster, die unsere Gesellschaft noch immer strukturieren, stärker zum Vorschein.

      Und die Zurückgeworfenheit auf das Zuhause intensivierte die Verhältnisse, die dort herrschen: die Ausbeutung und Abwertung von Frauen in den eigenen vier Wänden. Die Fälle häuslicher Gewalt nahmen zu. In Berlin gingen allein in der Woche vor Ostern 332 Anrufe von Opfern ein, doppelt so viele wie im Jahr zuvor.

      Auch jenseits von Corona sind heterosexuelle Beziehungen für Frauen im neoliberalen Neopatriarchat Deutschlands gefährlich, beinahe jeden dritten Tag wird eine Frau gar von ihrem Partner oder Expartner ermordet. Doch die sexualisierte oder körperliche Gewalt, die jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben in einer heterosexuelle Beziehung erlebt, wird weiterhin selten als Ausdruck struktureller sexistischer Machtgefüge diskutiert, sondern oft noch unter dem Schlagwort »Beziehungstat« oder »Familientragödie« verharmlost. Es fehlen Statistiken über Körperverletzungen und Vergewaltigungen, innerhalb und außerhalb des häuslichen Bereichs, und es fehlen offizielle Daten über Morde an und Gewalt gegen trans Frauen, mehrfach diskriminierte Frauen und Queers. »Gruppenvergewaltigungen« (mehrere Täter, und das sind in den bekannten Fällen ausschließlich Männer, vergewaltigen zusammen ein Opfer) werden in Deutschland laut einem Forschungsbericht des Bundeskriminalamts jährlich zwischen 300 und 600 verübt. Und das sind nur diejenigen, die zur Anzeige gebracht werden.

      Übergriffe finden überall statt, in der häuslichen Sphäre, in der Öffentlichkeit – und auch am Arbeitsplatz: Jede dritte Frau wird hier belästigt, wie eine Umfrage Anfang 2019 zeigte.

      Jede dritte Frau. Anfang 2019. Nach #MeToo.

      All die Umstände, die ich bislang beschrieben habe, wurden in unserer Gesellschaft mit #MeToo erstmals wirklich öffentlich sichtbar und sagbar. #MeToo zeigte, dass, egal was sie machen, denjenigen, die als Frauen oder nichtbinär gelten, nur eins gewiss ist: die Chance darauf, angegrapscht zu werden.

      Doch #MeToo brachte auch etwas ins Rollen. #MeToo war Ausdruck einer neuen feministischen Bewegung, einer neuen Form der Patriarchatskritik, die so lange gefehlt hatte.

      Erstmals verschafften sich Frauen und Queers transnational Gehör für die permanent erlittenen sexistischen Erfahrungen. Für viele war genau das der entscheidende Moment, sich zu politisieren und zu erkennen: Es geht nicht nur mir so, nein, das ist ein strukturelles Problem.

      Und dieses Problem nannten sie »Patriarchat«. Sie gingen auf die Straßen und riefen »Smash Patriarchy!«, und in diesem neuen Umgang war der Begriff von seinem monolithischen Charakter befreit. Er machte es möglich, »etwas Gemeinsames zwischen der Weinstein-Affäre, der Wahl Trumps, der Not der Näherinnen in Asien, der Landarbeiterinnen in Nordamerika und den epidemischen Vergewaltigungen in Indien zu sehen«, wie die Kulturchefin des Guardian Charlotte Higgins über die Gründe für das Revival des Konzepts schreibt. Es hilft zu verstehen, warum so viele Frauen es nicht schaffen, Männer zu verlassen, die sie erniedrigen und kontrollieren, warum Organisationen, auch wenn sie von Frauen geführt werden, noch immer eine Gender-Lohnlücke aufweisen. Warum die Kleidung von Angela Merkel und Theresa May in den Medien kommentiert wird, die von Emmanuel Macron aber nicht. Warum es in Filmen so wenige wichtige Frauenfiguren und nichtbinäre Charaktere gibt.

      In der neuen Verwendung, auf dem Women’s March ebenso wie auf der Demo zur Abschaffung des Paragrafen 219a, machte der Begriff den Zusammenhang zwischen Klassenverhältnissen, kapitalistischen und rassistischen Ausbeutungsverhältnissen und heteronormativer Herrschaft klar. Dazu komme ich im zweiten Teil des Buches.

      Jene neue feministische Patriarchatskritik, bestärkt durch die globale #MeToo-Bewegung, ist der Grund dafür, dass ein Sexist wie Steve Bannon sich nun um den Zustand der Männerherrschaft sorgt und deshalb die antifeministische Bewegung mobilisiert. Und die geht im gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck auf.

      Susan Faludi warnte nach #MeToo: Es ist so viel leichter, einen Patriarchen zu stürzen als das Patriarchat. Ein paar mächtige Männer mögen gefallen sein und gerade deshalb wird die alte Ordnung jetzt umso heftiger verteidigt: Gegen den Feminismus, gegen den »Gender-Wahn«, gegen »Multikulti«. Das Patriarchat ist beharrlich, auch an all den vermeintlich liberalen Orten dieser Welt – darum geht es in den folgenden Kapiteln.

      Angesichts der antifeministischen Kräfte wird die Notwendigkeit eines weiterführenden feministischen Kampfes und all jener Lebensweisen, die heute emanzipatorisch auf unsere Geschlechterverhältnisse einwirken können, noch deutlicher.

      Wenn es etwas gibt, so schrieb Charlotte Higgins im Guardian, das das Patriarchat beenden kann, dann ist dies die schrittweise Verschiebung des Verständnisses von Geschlecht und Sexualität. Und Beatrix Campbell glaubt: Wir müssen über Alternativen nachdenken, über eine Welt, in der Männer, in der Menschen nicht gewalttätig sind, in der Sex für alle schön ist, in der die Kosten für Kinder und Sorge geteilt werden, in der die Verteilung


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