TEXT + KRITIK 228 - Gabriele Tergit. Группа авторов
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TEXT+KRITIK.
Zeitschrift für Literatur
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-115-3
E-ISBN 978-3-96707-117-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: Das Foto von Gabriele Tergit (d. i. Elise Reifenberg) entstammt der Einwanderungsakte ihres Mannes, Heinrich Julius Reifenberg, die sich im Israelischen Staatsarchiv in Jerusalem befindet. (Government of Palestine. Department of Migration: Application for Palestinian Citizenship, 3.9.1937, 9 Bl., Israel State Archives (ISA), RG 11, file 6040/44.) © Juliane Sucker
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Erhard Schütz
»Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte«. Gabriele Tergits Feuilletons über Berlin, seine Menschen und seine Zustände
Liane Schüller »Der Menschheit anderer Teil, die Frau«. Gabriele Tergit und die Neue Frau in der Weimarer Republik
Nicole Henneberg Der Historie zusehen. Gabriele Tergit als Chronistin und Feldforscherin
Elke-Vera Kotowski »Im Schnellzug nach Haifa« und »Der erste Zug nach Berlin«. Gabriele Tergits Reisepässe als Dokumente ihrer Exilerfahrung
Gabriele Tergit Umschichtung
Juliane Sucker »Keinerlei europäische Geistigkeit«. Gabriele Tergits literarisch-journalistische Streifzüge durch Palästina
Joachim Schlör Gabriele Tergit: Mit und ohne Berlin im Exil
Risa Tamaru Kampf einer Literatin für den »anonymen Heroismus«. Zu Gabriele Tergits »Der Engel aus New York«
Reinhold Lütgemeier-Davin Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett. Konsequenzen eines historischen Analyseversuchs: Gabriele Tergit und Kurt Hiller
Juliane Sucker Biografische Notiz
Juliane Sucker Bibliografie
Erhard Schütz
1
Gabriele Tergits Romane stammen von Texten ab, die den größeren Anteil ihres Werks ausmachen: Texte fürs Feuilleton. Diese prägten nicht nur das zeitgenössische Bild der Autorin, sondern vom Gegenstand und der Schreibweise her ihre Romane. Bei »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« liegt es auf der Hand, handelt der Roman doch weitgehend im ureigensten Pressemilieu. Zudem hat sie zahlreiche ihrer journalistischen Texte mehr oder weniger direkt in ihn integriert. Selbst ihr großer, Jahrzehnte, Familien und Orte überspannender Roman »Effingers« lebt von wesentlichen Elementen ihres journalistischen Schreibens: Kürze der Kapitel, dialogische Präsenz und pointierte Situationsschilderungen. Mit diesen Bezügen sind die Reichhaltigkeit und Reichweite ihrer journalistischen Texte bei weitem nicht erschöpft. Allein das Spektrum der Formen: nebeneinander stehen Aufsätze und Gerichtsreportagen, Porträts oder eben klassische Feuilletons. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sie über alles schrieb, was ihr begegnete, jederzeit bereit und in der Lage war, ihre Umwelt in Text zu verwandeln. Sie schrieb vom Urlaub, ob Ostsee oder Griechenland,1 sie schrieb über, von und aus Berlin, über Menschen, Orte, Eigenheiten, Geschehnisse, Institutionen, Figuren. Ihr Schreiben war eine ständige Interaktion mit der Stadt, mit dem, was sie für sich und für die Zeitgenossen charakterisierte. Ähnlich wie Joseph Roth qua »Frankfurter Zeitung« und »Münchner Neueste Nachrichten«, vielleicht mehr noch als dieser, prägte sie über das in der gesamten Republik wahrgenommene »Berliner Tageblatt« das Bild, das die Berliner und die Deutschen von der Hauptstadt und ihren Bewohnern hatten. Wie neben ihr etwa Walther Kiaulehn, Fred Hildenbrandt oder Hermann Sinsheimer. Anders als Ruth Landshoff-Yorck, Christa Winsloe oder auch Vicki Baum agierte sie dabei in einem unmittelbar von Männern geprägten Umfeld, ohne daraus grundsätzliche Differenzen abzuleiten. Sie schrieb sehr häufig, doch nicht nur, über Frauen und deren Situationen; reklamierte aber weder eine Sonderstellung noch einen genuin weiblichen Blick.
2
Tergit schrieb in einer Zeit, in der das Feuilleton expandierte, im »Berliner Tageblatt« zum Beispiel in den Lokalteil einwanderte, wie überhaupt vom Feuilleton ein starkes journalistisches Selbstbewusstsein ausging. Zugleich bewegte sich das Feuilleton in seinem Fokus weg von der ihm genuin bis dato zugeschriebenen und zugestandenen spielerischen Unterhaltsamkeit, originellen Plauderei und versöhnlichen Heiterkeit, die so oft an ihm moniert worden war, hin zur engagierten Aufmerksamkeit auf soziale Verhältnisse und Auswirkungen der Politik. Signifikant für solche Verschiebungen war, dass die Reportage Einzug in die Sparte Feuilleton hielt. Programmatisch führend war dabei die »Frankfurter Zeitung«. In der hatte Joseph Roth schon intern selbstbewusst für sich reklamiert: »Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger, als den Leitartikler. (…) Ich zeichne das Gesicht der Zeit.«2 Neben Roth waren es in der »Frankfurter Zeitung« vor allem Heinrich Hauser und Erik Reger, die aus der industriell geprägten Arbeits- und Lebenswelt berichteten, Siegfried Kracauer über die neue Schicht der Angestellten, freilich selbst kritisch dem Format der Reportage gegenüber, aber deren Techniken für seine Essays nutzend.
Auch das »Berliner Tageblatt« pflegte ausgiebig die Berichterstattung qua Reportage. Die wurde freilich selbst im feuilletonistischen Diskurs in Geschlechterzuschreibungen hineingezogen. Die Reportage galt als männlich, das Feuilleton und sein Publikum als weiblich oder effeminiert.3
Von Programmatiken unbeeindruckt, schrieb Gabriele Tergit – und sie schrieb dabei durchaus über das Greifbare und Wirkliche, unpathetisch, sachlich, knapp. Zugleich voller Witz, Ironie und Sarkasmus. Aus einer Haltung heraus, die damals als typisch Berlinisch angesehen wurde und bis heute als Gerücht über die Stadt kolportiert wird, in der das längst zu Aversion und Grobheit heruntergekommen ist: Nüchternheit und Pointiertheit. Die industriegeprägte, weithin geschichtslos scheinende, als genuin modern verstandene Stadt, die man zuvor mit Chicago verglichen hatte und die sich an New York zu messen begann, war das Experimentier- und Exerzierfeld aller wesentlichen neuen sozialen und kulturellen Erscheinungen,