TEXT + KRITIK 228 - Gabriele Tergit. Группа авторов
schießen aus Liebe zwischen siebzehn und dreiundzwanzig, Frauen schießen zwischen fünfunddreißig und fünfzig. (…) Zu lieben, vor allem unglücklich zu lieben, gilt nämlich als Schwäche und Lächerlichkeit, und eine alternde Frau, die unglücklich liebt, ist ebenso komisch wie ein männlicher Grünschnabel. Nur an einem Ort ist der unglücklich Liebende merkwürdigerweise der Sympathische, in Moabit nämlich, wo es immer so aussieht, als ob die Tragödie nie durch die Gewalttätigkeit und die Ungerechtigkeit der Liebenden entstünden, sondern durch die Indolenz und Mitleidlosigkeit der Geliebten.«14 Wie sie in diesem Falle auf quasi Anthropologisches abzuheben scheint, so benennt sie in anderen die sozialen Umstände und gesellschaftlichen Normen als Ursache der verhandelten Fälle – und oft genug dann auch des als ungerecht wahrgenommenen Urteils. Nach Möglichkeit überlässt sie den Leserinnen und Lesern das Urteil, indem sie in enumerativen Kurzsätzen das Verhandelte vermeintlich nur wiedergibt.
Was nun die politischen Prozesse angeht, so bemühte sich Tergit immer wieder, um Verständnis für die Lage der Richter zu werben und ihrer Ansicht nach gute Richter entsprechend zu loben. Sie weicht jedoch in einem Punkt regelmäßig von den Wertungen der Gerichte ab: Wo diese kriminelle Energie am Werke sahen, machte sie meist die sozialen Umstände verantwortlich. Die in den letzten Jahren der Republik besonders signifikante Drift der Justiz nach rechts erzeugt auch bei ihr Resignation und zunehmend Verbitterung. Das scheint gerade bei Prozessen durch, die den tristen Alltag spiegeln – politisch motivierte Schlägereien und Schießereien unter jungen Arbeitern und Arbeitslosen. Sie sieht ungerichtete Aggressivität junger, unausgebildeter und perspektivloser Männer, doch auch jene fatale Aufrüstung der Aggressivität durch politische Gruppenbildungen und Indoktrination. Mal apostrophiert sie ironisch »Helden der Straße«, mal lautet die nüchterne Überschrift »Montag und Donnerstag Überfall«.15 Hatte sie 1925 noch die Eitelkeit junger Burschen als Ursache ausgemacht und rhetorisch gefragt: »Was würde aus allem Heldentum, wenn es keine Spiegel gäbe?«,16 so beobachtet sie zunehmend die Vergleichgültigung und Vereinseitigung der Justiz. Einer Justiz, wie sie im Oktober 1932 schreibt, die inzwischen bewusst von zweierlei Recht ausginge, »einem für die Nationalsozialisten als Staatsbejaher, einem anderen für Kommunisten als Staatsverneiner«, und die daher nicht mehr Tat und Täter beurteile, sondern »plump und grob wie in einem schlechten Kriminalroman« mit der Frage: »Wer schoß? Die Justiz wurde degradiert zur Detektei.«17 An dieser Passage – der einzigen in all den Gerichtsberichten übrigens, in dem vom Kriminalroman die Rede ist, während sie selbst ja an einem mitgeschrieben hatte18 – wird zugleich deutlich, worin ihre Berichte die Differenz zu Kriminalromanen sahen, im Anspruch nämlich, dass es im Vollzug des Rechts um Gerechtigkeit gehe, was elementar voraussetzte, je individuell nach Persönlichkeiten, Motiven und Umständen von Taten zu fragen. So, wie sie selbst nach den Auswirkungen auf die Beteiligten und die Öffentlichkeit fragt.
Dazu etwas ausführlicher ihr Fazit zu einem Prozess, in dem die Todesstrafe gefordert wurde gegen fünf Kommunisten, fälschlicherweise des Mordes an einem Nazi angeklagt, der tatsächlich versehentlich von den eigenen ›Kameraden‹ erschossen worden war: »So sprachen die Menschen, die Polizei schützt sie nicht, die Staatsanwaltschaft blieb nicht die objektivste Behörde, die sie zu sein hat. Tief fraßen schon faschistische Gedankengänge sich in die Köpfe. Die letzte Instanz, das Gericht, hat nicht versagt. Das ist kaum mehr als ein Zufall. Es traf zusammen eine groteske Anschuldigung, ein wahrheitssuchender Mensch als Richter, dem der heilige Gedanke des gleichen Rechts für alle nicht eine Phrase ist, und leidenschaftliche Anwälte des Rechts. So ging es gut aus.«19
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Berlin ist in Tergits Feuilletons und Reportagen bei aller kritischen Distanz ein lebbarer Wohnort, nicht gerade anheimelnd, aber auch nicht unbewohnbar, ein Ort der Verwerfungen und Kontraste von Krieg und Nachkrieg, alter und neuer Moderne, unter zunehmend polarisierender Politik und erschwerten sozialen Verhältnissen. Mit ihrem feinen Sensorium für Phrasen, Gerede und falschen Schein, erkennt Tergit, wie nicht nur der »Käsebier«-Roman bezeugt,20 den falschen Zungenschlag und die obsoleten Versprechen von Heimat als Kitsch und Marketing. Ein Zitat aus einer nicht näher genannten »Rechtszeitung« nimmt sie in »Die Sache mit der Berolina« (BT, 16.4.1929) zum Anlass einer Abrechnung mit dem historistischen Berliner Architektur- und Dekorationskitsch, wozu für sie die Statue der Berolina steht, die der Neugestaltung des Alexanderplatzes weichen musste. »Hierher gehört die Berolina in ihrer abgründigen Scheusslichkeit, mit ihrem Materialwert, mit ihrer nur auf Quantität berechneten Wirkung.« Aber, setzt sie dann hinzu, »wenn die Statue auf unserem Schulweg gestanden hat, weinen wir doch, wenn sie ganz einfach auf den Müll kommt, wenn sie sich dort nur noch mit dem Ball, der allzulange in der Regenrinne lag, und mit dem Kreisel, der seine Vergoldung verloren hat und mit einem zerrissenen Hemd unterhalten kann«. Wie bei Walter Benjamin und vielen anderen in Berlin aufgewachsenen Autoren wird die Erinnerung an die schwindende oder verschwundene Stadt der Kindheit zur imaginären Heimat.21 Dem steht die Kritik an der betriebsamen Vermarktung von Heimat nicht nur im Roman, sondern auch in den Feuilleton-Texten entgegen. »›Im Schoss beseligender Heimat‹« (BT, 4.9.1928) berichtet vom Besuch von Haus Vaterland, einem Amüsierlokal mit heimatlich-kosmopolitischen Pappmaché-Inszenierungen: Ein Wiener Heurigenlokal, alpenländisches Bayern, spanische Taverne, ungarische Bauernschänke, Rheinromantik, Orient von Tausendundeine Nacht, Venedig mit »Gondel und Makkaroni« und ein Berlin, das durch Revue, »Fleisch und Gymnastik, Trude Hesterberg und großkotzige Gäste« repräsentiert wird. Fluchtartig das Etablissement und seine Musikbeschallung verlassend, betritt sie »den stillen, behaglichen Potsdamer Platz«, eben jenen Ort, der den Zeitgenossen Inbegriff von Unrast und Lärm war. Explizit angesprochen wird schließlich die Frage nach der Heimat im Titel eines Feuilletons von 1930: »Heimat 75 resp. 78« (BT, 19.2.1930). Das beginnt: »Nicht der Brunnen ist meine Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor, nicht der Weg um den Wall, wie auch heute noch, wenn du in Zerbst lebst oder in Schweinfurt, Heimat ist meine 75. Früher hiess sie S. oder O.« Auch hier wieder speist sich diese aus Erinnerungen an die Vergangenheit. »Als wir junge Mädchen waren« … Folgt eine weitere Durchmusterung des Verkehrsnetzes nach möglicher Heimatlichkeit, wobei sie das Netzwerk der Straßen und Plätze der gesamten Stadt von West nach Ost imaginiert, um dann am Ende zu wiederholen: Nicht Linde, Tor und Brunnen ist hier Heimat, »Heimat ist unser Einser, unsere Fünfundzwanzig, unsere Siebenundvierzig, treppauf und treppab springen, von der Untergrundbahn bis zum Bahnhof Friedrichstrasse, 97 Stufen.« Dies nüchtern-sentimentale Heimatbild Berlins hat ein Nachbild. In »Effingers« findet sich das Vorhergehende abgewandelt im 142. Kapitel, als Lotte Effinger unter Morddrohungen der Nazis halsüberkopf die Stadt und Deutschland verlassen muss. »Sie kehrte nicht um, um ihren Mantel zu holen. In diesen Straßen mit den grauen Häusern war sie geboren worden, und darum hing sie an allem, was mit dieser Stadt zusammenhing. Am Keller mit Heringen und am kleinen Juwelierladen (…), an der kleinen Maßschneiderei und am Thanatos-Beerdigungsinstitut. Wie oft, wie oft war sie an all dem vorübergefahren! Und da kam schon das alte Tier, die elektrische Bahn Nr. 76, die Erinnerung ihrer Jugend (…). Nicht der Brunnen war ihre Heimat, nicht die Linde, nicht der Gang vors Tor (…), Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte, die 76, gute, edelwerte 76: Ich werde dies alles nie mehr wiedersehen, dachte sie.«22
1 Vgl. etwa Gabriele Tergit: »Der Prophet in der Hotelhalle«, in: »Vossische Zeitung«, 1.12.1922; »Münchener Tagebuchseite«, in: »Berliner Tageblatt«, 1.2.1927, Abendausgabe; »Begegnungen an der Adria. Auf einer Reise nach Griechenland«, in: »Berliner Tageblatt«, 3.9.1927; »Auf den griechischen Inseln. Aeghina oder die Ziegeninsel«,