TEXT + KRITIK 228 - Gabriele Tergit. Группа авторов
schreiben.
Von »Heuschreckenschwärme(n) von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern«,4 hatte Walter Benjamin in seiner »Einbahnstraße« geschrieben, die nicht zum wenigsten auf Berlin rekurrierte. Das Eigentümliche dieser tatsächlich immensen Textproduktion Tag für Tag war, dass die je einzelnen Autoren zwar unter dem Druck der konkurrenzialistischen Aufmerksamkeitsökonomie auf Erkennbarkeit, Originalität und Besonderheit fixiert waren, in toto sich aber eine relative Gleichförmigkeit ergab: Stereotypen, Konfigurationen oder Muster, durchaus signifikante Zeichen zur Orientierung – immer wiederkehrende Themen, Bilder, Argumentationsfiguren. Indem sie konkurrierend, arbeitsteilig, vereinzelt schrieben, erzeugten sie doch, was man Textmuster5 nennen könnte, Akkumulationspunkte der Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit, Topoi der Orientierung, deren Moirées, Interferenzen, Konfigurationen, die sich zu Stereotypen und Klischees verfestigten, gegen die man dann wiederum anschrieb. Auffällig dicht gemustert ist zum Beispiel eine Linie vom Kurfürstendamm zum Alexanderplatz, die über Potsdamer Platz, Friedrichstraße und Unter den Linden führte.6
Nun war Gabriele Tergit eine sozialisierte Berlinerin. Für sie waren Ankünfte in der Stadt allenfalls Rückkünfte aus temporärer Abwesenheit, so wie bei Walter Benjamin in der »Berliner Kindheit«. Wenn sie zum Kurfürstendamm, dem Signalort ihres Romans, im Feuilleton schrieb, dann nicht, wie Kracauer, Polgar, Roth oder Sinsheimer Begegnungen von Zugezogenen, sondern übers Abseits der Straße, aus dem Planetarium, das 1926 gleich neben dem Ufa-Palast errichtet worden war:7 »Fünf Minuten vom Kurfürstendamm für 80 Pfennig Viertelstunde Ewigkeit. Vier Schritte von der zitternden Stadt, von den Leuchtraketen der Zeitungsdepeschen, vom Geheul der Steuerbomben, vom Platzen der Bankgranaten, von den Minenwerfern der Entlassung stilles Wort von Winkelgraden und Entfernung von Sonne, Mond und Sternen, eine Viertelstunde Ewigkeit.«8
Was freilich implizit wiederum auf das Übliche replizierte …
Nur einmal – soweit zu sehen – hat Gabriele Tergit sich zu einem programmatischen Grundsatzbeitrag zur Stadt hinreißen lassen. Zu Beginn des Krisenjahrs 1932. Und zwar aus Anlass des Korruptionsskandals um die Brüder Sklarek, der die Stadt Millionen kostete, und in dessen Folge Oberbürgermeister Böß zurücktreten musste. Der Skandal führte zwischen 1929 und 1933 zu einer starken Vertrauenskrise um die Stadtverwaltung und die regierenden demokratischen Parteien. Nationalisten, Royalisten und insbesondere die Nationalsozialisten profitierten davon. Tergit tritt nun in einem langen Artikel dem Eindruck entgegen, »dass aus einer in jeder Hinsicht vorzüglich verwalteten (…) Gemeinde ein gemeiner Interessentenhaufen geworden sei, von Kaviar sich nährend und (…) Millionen Steuergelder aufs Spiel setzend«. Sie, die in ihrem Roman ja nicht zum wenigsten ähnliche Machenschaften dargestellt hatte, insistiert darauf, »dass trotz aller politischen Zerklüftung in diesem armseligen Nachkriegs-Berlin mehr für das Menschenglück geschehen ist als in fünfundsiebzig Jahren Grossstadtentwicklung vorher.« Die Wirtschaftskrise lasse alles vergessen, was in der Vorkriegszeit den Menschen in Berlin angetan wurde. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die Wohnungspolitik, verweist mit Zahlen auf die menschenunwürdigen, krankmachenden und kriminalitätsfördernden Wohnverhältnisse, insbesondere prangert sie »die Verquickung von Hausbesitzerinteressen und denen von Stadtverordneten« an, die zu den berüchtigten Mietskasernen geführt hätten, wie die Stadt bei der Neuerschließung einer privaten Gesellschaft ausgeliefert gewesen sei, wie allein beim Bau der Straßenbahnlinien durch Korruption den Steuerzahlern ca. 100 Millionen Mark Schaden entstanden waren, reiht skandalöse Grundstücks- und Immobilienskandale aneinander, die im Grunewald und mit dem Bau des Teltowkanals weitere zig Millionen Einbußen verursachten. Dagegen setzt sie die 22 Millionen, die zwischen 1922 und 1928 in den Bau von Spiel- und Sportplätzen sowie in Grünanlagen investiert wurden, die Hälfte aus privaten Mitteln, die als Verschwendung angeprangert worden seien. »Alles, aber auch alles, was in fünfzig Jahren von Volksfreunden gefordert wurde, Grüngürtel, gesunde Kleinwohnungen und Spielplätze konnte, nachdem eine höchst komplizierte Form von Korruption es bisher gehindert hatte, erst durchgesetzt werden, als das alte Regime gestürzt wurde.« Ihr Fazit: »Alles, was die in ihren entsetzlichen Wohnungen eingepferchten Berliner 75 Jahre forderten und nicht durchsetzen konnten, ist in den letzten Jahren erfüllt worden.«9
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Ansonsten schrieb sie selten so über soziale Verhältnisse, wie man es von anderen und vorzugsweise in Reportagen lesen konnte. Schon gar nicht über ein plebejisches Zille-Milieu, lieber über das alte Bürgertum und seine zunehmend prekären Verhältnisse, über das neue Parvenü-Milieu und die neuen Angestelltenschichten. In ihren Gerichtsreportagen spielten soziale Verhältnisse oft direkter eine Rolle, ansonsten grundierten sie im Gros ihrer Texte die Personen und Situationen mehr, denn dass sie explizit ausgestellt wurden. Dabei zeigte Tergit ein umso sensibleres Gespür für die sozialen Voraussetzungen und deren Folgen für die einzelnen Individuen. Für sie war die Stadt vor allem ein Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit Menschen sowie mit den neuen kulturellen Erscheinungen und Moden, die das Leben dieser Menschen zunehmend bestimmten. In Berlin früher und mehr denn andernorts.
Auffällig ist dabei zum einen ihr Gespür für Redeweisen, Jargons, Modewörter, sowie für das Erscheinungsbild von Personen, die sie mit knappen Bemerkungen skizziert, meist Habitus, speziell Kleidung und Gesicht. Sie erfüllt damit stellvertretend, was Rolf Lindner dem Großstädter als Aufgabe zuschreibt: »Der Großstädter muss zu einem Leser werden, für den das Gegenüber ein wandelnder Code ist, ein Leser, der nach verräterischen Anzeichen sucht.«10 Insofern ist sie eine Physiognomikerin der Stadt im genauen Sinne. Mit feinem Gehör für falschen Zungenschlag und scharfem Blick auf trügerischen Schein porträtiert sie ihre ›Zielpersonen‹ wie deren abgelauschte Äußerungen. Exemplarisch findet sich das in ihrer lockeren Porträtfolge der »Berliner Existenzen«. Das sind vor allem zwei Gruppen. Zum einen die aus der Vergangenheit Übriggebliebenen, »Die Vorkriegsexistenz« (BT, 14.12.1926) oder gar »Die Dame aus den 80er Jahren« (BT, 31.5.1927), die noch »Gainsborough-Hüte mit wallenden schwarzen Federn trägt« und nun von der Vermietung ihrer Wohnung lebt, aber immer noch die Schokolade im Bett nimmt. Zum anderen die neuen Typen, »Die Leerlaufexistenz oder die Luftperson« (BT, 9.11.1926), auf der Jagd nach »Beziehungen« und verstrickt in »ein völlig sinnloses Gemöchte«, oder »Der Konjunkteur« (BT, 15.2.1927), der propagiert, »man müsse mit der Zeit gehen, worunter er ein risikoloses Einkommen versteht, oder für praktische Ideale sein, was zweimal im Jahre verreisen heißt oder für eine klare Absage an verschwommene Theorien, womit er eine Achtzimmerwohnung bezeichnet«. Überhaupt operiert sie bei ihren Porträts gerne mit solchen typologischen Gegenüberstellungen. Etwa so: »Es gibt in Berlin (…) zwei Sorten von Menschen: die einen rechnen mit dem großen Coup, die nennt man Optimisten, die anderen haben ein Einkommen von 350 Mark an steigend und werden Pessimisten genannt.« (»Die Leerlaufexistenz«) Oder so: »Es gibt zwei Arten von Vorkriegsexistenzen, die einen besitzen nur noch ihren Bekanntenkreis und den Geschmack, mit dessen Hilfe sie sich durchschlagen können. Die anderen haben außerdem ihre Renten behalten.« (»Die Vorkriegsexistenz«)
Getragen werden ihre Personenporträts von Verhaltens- und Redeweisen. So besteht etwa »Die Nachbarin« (BT, 24.4.1928) ebenso wie »1913 oder die Jeunesse dorée« (BT, 19.7.1927) aus der Serie »Berliner Existenzen« ausschließlich aus Dialog. Ebenso signifikant sind anekdotisch daherkommende Dialoge oder auch Monologe, mit dem Anspruch, dem Alltag abgelauscht (oder für ihn ausgedacht?) zu sein. So etwa in »Staubsauger« (BT, 30.5.1928) das monologische Lamento eines Mannes über seine Schwester, die von Staubsaugervertretern übertölpelt wurde. Zwar bedient Tergit auch Routinevertextungen des Jahreszeitlichen, liefert etwa zum allfällig obligat wiederkehrenden Thema Frühling, »Und so verbringst du deine kurzen Tage. Eine Frühlings-Rhapsodie«