Tobinos Insel. Eva Rechlin

Tobinos Insel - Eva Rechlin


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Junge fuhr auf. Er sperrte wie Kasimir den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. In seinen weit geöffneten Augen standen Überraschung, Neugierde.

      Spirito musterte ihn finster. Sein Zorn verflog, als er den schokoladenverschmierten Mund und auf dem weißen Anzug einen großen Kakaofleck entdeckte. Langsam zog er sein Taschentuch hervor, ging auf Tobino zu, packte ihn am Kinn und sagte: »Spuck auf das Tuch!«

      Tobino starrte zu ihm auf, beugte sich gleich darauf vor und spuckte kräftig auf das Tuch. Pinselig wischte Spirito ihm den Mund ab. Danach nahm er Tobinos Hand und sagte: »Guten Tag.«

      Aber Tobino entzog ihm seine Hand, zerrte sein eigenes Taschentuch heraus, spuckte hinein und versuchte, auch den Kakaofleck von seinem Anzug zu entfernen.

      Spirito beobachtete ihn. Seit er vor fünf Jahren seine Ausbildung beendet hatte, war er in verschiedenen Häusern Erzieher gewesen. Er stellte fest, daß Tobino sich äußerlich kaum von seinen bisherigen Zöglingen unterschied. Allerdings hatte er noch nie ein Kind so verbissen in sein Taschentuch spucken und an einem Schmutzfleck herumreiben gesehen. »Du wirst kein Glück haben«, meinte er, »Kakaoflecken verschwinden nicht so leicht.«

      Tobino blickte ihn an. Jetzt endlich fand er seine Sprache wieder: »Aber ich will ihn rauskriegen, und wenn es drei Stunden dauert! Dann hätte ich drei Stunden lang etwas zu tun. Haben Sie schon mal drei Stunden hintereinander etwas zu tun gehabt?«

      »Drei? Lächerlich. Zehn Stunden und noch mehr!«

      Tobino vergaß zu reiben. »Was war das? War es interessant?«

      »Jedenfalls interessanter als deine Wischerei. Das solltest du besser den Wäschepflegern überlassen.«

      »Die haben schon genug zu tun. Alle haben etwas zu tun! Nur ich nicht! Nein, dieser Fleck gehört endlich einmal mir.« Er spuckte noch einmal in sein Tuch.

      Von der Tür her erklang ein Räuspern. Herr Dr. Kasimir stand noch immer dort. »Wenn ich es mir erlauben darf«, sagte er schmeichlerisch, »dann möchte ich dir empfehlen, mein Liebling, dich umkleiden zu lassen.«

      Tobino starrte ihn ein Weilchen an, als müßte er sich erst besinnen, wer Kasimir war. Plötzlich stampfte er mit dem Fuß und schrie ihn an: »Hören Sie mit Ihrem dämlichen Umkleiden auf, es ist genau so langweilig wie Sie!« Er blinzelte Spirito zu und sagte: »Wissen Sie was? Ich habe eine Idee: Ab heute machen wir uns unsere Sachen selbst sauber. Erst machen wir uns richtig schmutzig, und hinterher machen wir sie sauber. Dann haben wir den ganzen Tag etwas zu tun!« Spirito rümpfte die Nase, kraulte seinen roten Haarschopf und meinte: »Das liegt mir nicht. Dreckig machen – saubermachen? … Ziemlich trostlos. Ich wüßte bessere Beschäftigungen.«

      Tobinos Blick wurde mißtrauisch: »Meinen Sie vielleicht lernen? Oder umkleiden? Oder Kino sehen und spazieren fahren?«

      »Nein, daran hatte ich jetzt nicht gedacht.«

      »Verzeihen Sie meine abermalige Einmischung«, klang es von der Tür her, »ehe Sie sich ganz in Ihr Gespräch vertieft haben, möchte ich bitten, mich empfehlen zu dürfen.« Dr. Kasimir stand mit angelegten Händen und geneigtem Kopf wie ein Spazierstock auf dem Schaffell.

      Tobino grinste und rief: »Das war der beste Einfall, den Sie bisher hatten. Also gehen Sie, verschwinden Sie!«

      »Möchtest du mir nicht Aufwiedersehen sagen, mein kleiner Liebling?« säuselte Kasimir, als rechnete er mit einem letzten Trinkgeld.

      »Aufwiedersehen?« sagte Tobino. »Einen wie Sie möchte ich mein ganzes Leben nicht wiedersehen! Schade um das viele Geld, das Papa Ihnen gegeben hat. Ich hätte es lieber in den Kaugummiautomaten stecken sollen, dann hätten wenigstens meine Zähne vierzehn Tage lang was zu tun gehabt!«

      Kasimir richtete sich kerzengerade auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sein Gesicht verzerrte sich. Er sah aus, als hätte er wochenlang Gallebitteres geschluckt, um es in diesem Augenblick wieder loszuwerden. »Mit Vergnügen«, stieß er tückisch hervor, »mit dem größten Vergnügen gehe ich. Und dir mißratenem Teufel wünsche ich allen Schwefel der Hölle in den Hals. Viel Glück, Spirito!«

      Spirito antwortete nicht. Er hatte den Wortwechsel mit gesenktem Kopf verfolgt und sich für Kasimir geschämt. Jetzt hörte er die Schiebetür leise zur Seite gleiten, hörte Dr. Kasimir auf den Gang eilen und sich entfernen.

      Als er aufblickte, sah er in Tobinos zufrieden lächelndes Gesicht. Ein Weilchen blickte er ihn düster an. Dann wandte er sich schroff ab, trat an die gläserne Außenwand und schaute in den Garten. Er sah einige mit Koffern beladene Diener auf die Garagen zueilen und die Gepäckstücke in Dr. Kasimirs Auto verstauen. Kasimir folgte ihnen, setzte sich ans Steuerrad und fuhr, krampfhaft geradeaus blickend, durch das Rosentor hinaus auf die Allee, die zur Stadt führte.

      »Das war der Dreiundsechzigste«, hörte er Tobino hinter sich sagen, »er hat einen Haufen Geld eingeheimst. Sie können froh sein, daß Sie diesen Posten erwischt haben!«

      »Ich möchte nie wieder solche Dämlichkeiten von dir hören«, sagte Spirito drohend.

      Sekundenlang blieb es hinter ihm still. Schließlich hörte er zwei, drei durch die Felle gedämpfte Schritte auf sich zukommen. Er blickte zur Seite in Tobinos Gesicht. Verwundert sah er darin einen begeisterten Ausdruck.

      »Sind Sie streng?« fragte Tobino.

      »Ja, ich werde streng mit dir sein.«

      »Mit Verprügeln und Schimpfen und Strafarbeiten?«

      Spirito schüttelte den Kopf. »War je ein Erzieher derart streng mit dir?«

      »Nein, nie. Neulich habe ich einen Film gesehen, da war ein Lehrer streng mit seinen Schülern. Da hatten sie dauernd etwas zu tun.«

      »Was hatten sie zu tun?«

      »Sie dachten sich alles Mögliche aus, um den Lehrer zu ärgern – und nicht erwischt zu werden. Wenn Sie auch so streng sein wollen, werde ich Papa bitten, daß Sie schnell zu Geld kommen!«

      »Aber ich will gar kein Geld dafür«, sagte Spirito kopfschüttelnd, »ich habe mir nämlich vorgenommen zu versuchen …« Er stockte.

      Fassungslos fragte Tobino: »Sie wollen kein Geld? Aber alle wollen doch Geld!«

      »Du solltest davon nicht so überzeugt sein, Tobino. Es gibt sicher welche, wenn auch nicht viele, die viel weniger Geld haben und doch mit dir nicht tauschen würden. Einer von denen bin ich.«

      »Sind Sie etwa nicht hergekommen, um viel Geld zu verdienen?«

      »Nein.«

      Tobino biß sich auf die Lippen. »Sind Sie«, fragte er mit gedämpfter Stimme wie ein Verschwörer, »sind Sie etwa noch reicher als wir?«

      »Vielleicht. Da ich immer glücklich und zufrieden bin, muß ich wohl irgendwie reich sein.«

      »Was macht glücklich und zufrieden?« rief Tobino.

      »Bist du es denn nicht?« fragte Spirito.

      Tobino zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was es ist. Darum kann ich nicht sagen, ob ich es bin. Wollen Sie es mir zeigen?« Zum erstenmal lächelte Spirito. »Ich will es versuchen«, sagte er entschlossen, »ja, ich will es versuchen. Und jetzt solltest du mich endlich deinen Eltern vorstellen.«

      »Wem?«

      »Deiner Mutter! Deinem Vater! Ich möchte sie begrüßen und mich mit ihnen bekannt machen.«

      Tobino schüttelte den Kopf: »Die sind nicht hier. Papa kommt ganz selten nach Hause. Er muß so viel arbeiten. Und wenn er da ist, hat er nie Zeit für mich.«

      »Und deine Mutter?«

      »Ich weiß nicht, sie ist irgendwo zur Kur, in Indien oder in Grönland, wo man Kopfschmerzen los wird. Sie hat dauernd Kopfschmerzen. Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen.« Er seufzte und blieb mit hilflos hängendem Kopf vor Spirito stehen. Deshalb konnte er auch nicht sehen, daß sein neuer Erzieher plötzlich die Brille abnahm


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