Chefarzt Dr. Norden Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
sympathisch, dass Sie so authentisch sind. Die Überforderung steht Ihnen ins Gesicht geschrieben«, erklärte sie in der ihr üblichen taktlosen Art.
Adrian zuckte zusammen und fuhr zu ihr herum.
»Welche Überforderung?«, fragte er erschrocken.
In aller Seelenruhe schlürfte Christine ihren Kaffee.
»Machen Sie sich nichts daraus.« Sie tätschelte seine Schulter. »Diese Phase geht vorbei. Und am Ende werden Sie feststellen, dass Sie an Ihrer neuen Aufgabe gewachsen sind.«
Adrian Wiesenstein verstand kein Wort.
»Von welcher Phase sprechen Sie?«
»Als Alleinerziehender muss man oft Vater und Mutter in einem sein. Es ist ein Prozess, das Gleichgewicht und richtige Maß zu finden. Das geht nicht so von heute auf morgen. Aber ich bin sicher, dass Sie das schaffen werden.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
Auch Adrian rang sich ein Lächeln ab. Er schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück.
»Das ist es nicht. Joshua und ich sind schon seit über acht Jahren allein.« Er haderte mit sich. Am liebsten hätte er seinem heimlichen Schwarm Felicitas Norden das übervolle Herz ausgeschüttet. Doch es stand in den Sternen, wann er sie wiedersehen würde. Und wahrscheinlich war das auch besser so. »Meine Ex-Frau ist aus heiterem Himmel heute Vormittag bei mir aufgetaucht. Und ich kann nur hoffen, dass sie wieder weg ist, wenn ich nach der Schicht heute nach Hause komme.«
»Das klingt ja ganz so, als hätten Sie Angst vor ihr.«
Diese Bemerkung ließ sich Adrian durch den Kopf gehen.
»Angst ist das falsche Wort.« Er stand auf, schob die Hände in die Kitteltaschen und sah die Kollegin an. »Aber als Paola mir vorhin gegenüberstand – das erste Mal seit acht Jahren –, da …«
»Da ist alles wieder hochgekommen«, fiel Christine ihm ins Wort.
Sie winkte ab.
»Da kann ich ein Lied davon singen. Aber ich sage Ihnen etwas: Aufgewärmt schmeckt nur Gulasch.«
Nur mit Mühe konnte sich Adrian ein Lachen verkneifen.
»Mir selbst das nicht«, erklärte er und ging zur Tür. Er hatte beschlossen, dieses wenig ergiebige Gespräch zu beenden und sich lieber an die Arbeit zu machen. »Ich bin nämlich Vegetarier.« Er hob die Hand zum Gruß und ließ eine verdutzte Christine Lekutat zurück.
*
Wie angekündigt wartete Paola Wiesenstein im Café ›Schöne Aussichten‹ auf ihren Sohn. Pro forma hatte sie ein Glas Wasser bestellt. Während sie daran nippte, fiel ihr Blick immer wieder durch das große Fenster hinaus auf die Straße. Sie hätte es niemals zugegeben, aber sie hatte tatsächlich Lampenfieber. Wie würde Joshua sie begrüßen? Würde er ihr Vorwürfe machen?
»Hallo, Paola.« Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr herum.
Unbemerkt war ein junger Mann an den Tisch getreten. Er trug einen Hut. Unter dunklen Augenbrauen blitzten warme braune Augen. Der erste Bart sprießte.
»Du siehst aus wie dein Vater.« Wie vom Donner gerührt starrte Paola ihren Sohn an. Obwohl sie in den letzten Jahren immer wieder Fotos von ihm gesehen hatte, war er männlicher, erwachsener als erwartet.
»Ich nehme mal an, dass er wesentlich an meiner Entstehung beteiligt war«, erwiderte Joshua kühl. Nicht das kleinste Wimpernzucken verriet, wie es wirklich in ihm aussah. Sein schauspielerisches Talent kam ihm dabei zugute.
Paola lächelte. Sie stand auf und breitete die Arme aus.
»Noch immer derselbe kleine Rebell wie früher.«
Joshua zögerte, ließ sich dann aber gnädig umarmen.
»Diese Eigenschaft scheine ich wiederum von dir zu haben.«
Lachend gab sie ihn frei.
»Dann bist du eine gelungene Mischung.« Sie machte eine einladende Geste. »Setz dich! Was möchtest du trinken?«
Tatjana trat an den Tisch, und Joshua bestellte Rhabarberschorle und Käsekuchen. Während sie warteten, saß er seiner Mutter schweigend gegenüber. Er hatte nicht vor, es ihr leicht zu machen. Es war an ihr, die richtigen Worte zu finden.
»Bestimmt fragst du dich, warum ich nach all den Jahren einfach so vor der Tür stehe.«
»Die Kandidatin hat hundert Punkte.«
Obwohl Paola nichts anderes erwartet hatte, schmerzte sie seine zur Schau gestellte Kälte.
»Komm schon, Tiger«, bat sie ihn mit sanfter Stimme um Nachsicht. »Sei nicht nachtragend. Du weißt doch, dass ich sehr beschäftigt bin.«
»Zu beschäftigt, um deinen einzigen Sohn hin und wieder einmal zu besuchen?« Joshuas Stimme war so scharf, dass Tatjana vorn am Tresen unwillkürlich zu ihm hinübersah. Sie kannte weder den jungen Mann noch die Frau am Tisch. Doch ihre fast magische Sensibilität, gepaart mit einem hervorragenden Hörvermögen, erzählte ihr von Spannungen und Enttäuschung.
Um Zeit zu gewinnen, trank Paola einen Schluck Wasser. Sie wagte es nicht, Joshua ins Gesicht zu sehen.
»Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht den Mut, dich zu besuchen«, gestand sie leise und drehte das Glas in den Händen. »Ich hatte Angst, dass ein Wiedersehen meinen Entschluss zu arbeiten ins Wanken bringen könnte. Diese Gefahr konnte und wollte ich nicht eingehen. Kannst du das nicht verstehen?«, appellierte sie an seinen Verstand.
Erbarmungslos schüttelte Joshua den Kopf.
»Andere Mütter sind auch berufstätig und verlassen ihre Kinder trotzdem nicht.« Er stach ein Stück Kuchen vom Teller und schob die Gabel in den Mund. Dabei ließ er Paola nicht aus den Augen.
Sie wand sich unter diesem vorwurfsvollen Blick.
»Andere Mütter sind keine Schauspielerinnen«, entgegnete sie. »Das ist ein großer Unterschied.«
»Ach ja?« In Joshuas Mundwinkel zuckte ein hämisches Lächeln. »Und welcher?«
Allmählich wurde Paola böse.
»Weißt du, wie viele Kolleginnen ihre kleinen Kinder mit ins Theater oder ans Set zerren? In meinen Augen hat das nicht viel mit Liebe zu tun, sondern vielmehr mit Egoismus. Ein Kind braucht Routine und Rituale, keine Wohnwagen und Hotelzimmer in immer verschiedenen Städten. Ich wollte es dir einfach nicht zumuten, abends in verrauchten Garderoben zu sitzen, mich zu Essenseinladungen zu begleiten zu Zeiten, in denen du längst im Bett liegen solltest. Ich habe meine Gefühle hintenan gestellt und dir einen geregelten Alltag ermöglicht. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
Ihre Kehle war trocken. Hastig trank einen großen Schluck Wasser.
Betroffen senkte Joshua den Kopf. So weit hatte er in der Tat noch nicht gedacht.
»Nein, das habe ich nicht.«
Paola holte tief Luft und lächelte.
»Siehst du. Jede Medaille hat zwei Seiten.«
Joshua schob den Teller von sich. Er streckte die Beine aus und faltete die Hände über dem Bauch.
»Und warum traust du dich jetzt, herzukommen? Was hat sich geändert?«
Paola legte den Kopf ein wenig schief.
»Erstens bist du fast erwachsen und brauchst keinen Babysitter mehr. Und zweitens war ich auf der Durchreise in die Schweiz, wo ich ein Engagement angenommen habe.« Mit einem Mal füllten sich ihre Augen mit lange zurückliegenden Erinnerungen. »Weißt du noch? Unser Urlaub am Zürichsee?«
»Zufällig habe ich erst heute Fotos davon angeschaut.« Joshua konnte nur den Kopf schütteln über diesen Zufall. »Ist das nicht merkwürdig? Jahrelang habe ich nicht daran gedacht. Und plötzlich stoße ich an jeder Ecke auf diese Erinnerungen.«
»Ich kenne dieses Phänomen.« Unauffällig sah