Jan in der Falle. Carlo Andersen

Jan in der Falle - Carlo Andersen


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Knud Meister und Carlo Andersen

      Erstes kapitel

      Die Flucht

      In der einsamen, jütländischen Heide standen mehrere Gefängnisbaracken, umgeben von großen Äckern. Das ganze Gebiet war mit einem hohen Stacheldrahtzaun eingefaßt, und an dem einzigen Tor, das ins Freie führte, stand immer ein Doppelposten. Innerhalb der Eingrenzung konnten sich die Gefangenen ziemlich frei bewegen, obwohl sie natürlich gewissen Beschränkungen unterworfen waren. Die Bewachung war jedoch so scharf, daß an eine Flucht fast nicht zu denken war. Einige Jahre vorher war es einem Gefangenen gelungen, eine Drahtschere ins Lager zu schmuggeln; damit hatte er in einem günstigen Augenblick den Stacheldrahtzaun durchschnitten und war geflohen. Aber die goldene Freiheit dauerte nur einige Stunden. Die gut abgerichteten Spürhunde der Polizei hatten bald seine Spur entdeckt, und noch vor Sonnenuntergang saß er wieder hinter Schloß und Riegel. Seit der Zeit hatte niemand mehr den Versuch gewagt. Jeden Morgen gingen Kolonnen von graugekleideten Gefangenen durch das Tor, um auf den großen Äckern zu arbeiten. Diese Kolonnen wurden nicht nur von Gefängniswärtern bewacht, sondern jeder Gruppe waren auch zwei Polizeihunde zugeteilt, die ihre Aufgabe genau kannten. Unter solchen Umständen war der Gedanke an Flucht recht sinnlos.

      Trotzdem gab es immer einige Gefangene, die sich ständig mit Fluchtplänen befaßten. Ihnen erschien die Freiheit so begehrenswert, daß sie kaum an die Folgen dachten, die ihr Fluchtversuch mit aller Sicherheit haben würde. Selbst wenn ihnen die Flucht gelang, gab es in der einsamen, nur wenige Gehöfte aufweisenden Heide keine Möglichkeiten für sie, lange auf freiem Fuß zu bleiben – und anschließend hatten sie eine zusätzliche Strafe zu erwarten. Obwohl manche von ihnen nur noch wenige Monate in dieser Strafkolonie zu verbringen hatten, weil ihre Strafzeit bald abgelaufen war, versuchten sie es dennoch. Diese Menschen konnten eben nicht weiter als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze denken.

      An einem schönen sonnigen Morgen im Spätsommer ging eine Gruppe Gefangener durch das Tor hinaus ins Heideland, etwa einen Kilometer vom Lager entfernt. Einer von ihnen war ziemlich klein und hatte einen düsteren, verbissenen Ausdruck im Gesicht. Seine dunkle Haut und die glänzenden schwarzen Haare verrieten, daß er ein Südländer war. Sein wesentlich größerer Nebenmann dagegen sah mit seinem rotbackigen Gesicht, den blauen Augen und den hellblonden Wuschelhaaren eher gutmütig aus, und als er sich in gedämpftem Ton mit seinem Kameraden unterhielt, hörte man, daß er Füne war.

      «Wollen wir’s heute versuchen, Manuelo?» fragte er leise seinen Kameraden.

      Der Dunkelhäutige schaute sich vorsichtig um und flüsterte fast unhörbar: «Ja, es ist unsere letzte Chance. Wir sind mit der Arbeit an dem langen Entwässerungskanal fast fertig, und später werden wir kaum noch eine Möglichkeit haben.»

      «Sollten wir nicht lieber ...?»

      «Ruhig!» Manuelo zischte dieses Wort durch die Zähne, und sein Nachbar wußte sogleich, warum.

      Einer der vier die Kolonne begleitenden Wärter war in ihre Nähe gekommen. Er warf ihnen einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts und ging kurz darauf weiter, an der Reihe der grauen, stummen Gefangenen entlang.

      Draußen auf der Heide wurden die Gefangenen in kleinere Gruppen unterteilt und bekamen Schaufeln, Hacken und Spaten; dann begann die tägliche Arbeit.

      Am südlichen Ende des Ackerlands war ein schmaler Entwässerungskanal gegraben worden, der die Heide von den versumpften Moorgebieten auf der anderen Seite trennte. Der Kanal war ziemlich tief; das Wasser stand darin jedoch kaum höher als fünfundzwanzig Zentimeter.

      Sowohl Manuelo wie sein Freund Peder arbeiteten an diesem Kanal, und als sich der sie kontrollierende Wärter für eine Weile entfernte, bekamen sie wieder Gelegenheit, einige Worte miteinander zu sprechen.

      Der Füne flüsterte fast unhörbar und ohne den Kopf zu drehen: «Gibst du das Zeichen, wenn es losgehen soll?»

      «Ja», sagte der andere genau so gedämpft und machte sich eifrig mit seinem Spaten zu schaffen. «Ich sage dir Bescheid ... und dann brauchst du mir nur zu folgen.»

      «Glaubst du nicht, daß die Hunde uns sofort aufspüren werden?»

      «Nein, nicht, wenn wir dem Kanal noch ein Stück nach der Biegung folgen. Der Boden ist glitschig, aber fest genug.»

      «Und wenn sie uns nun gleich entdecken?»

      «Dann können wir natürlich nichts machen. Fünf Minuten Vorsprung brauchen wir mindestens ... aber die bekommen wir wohl auch.»

      «Glaubst du wirklich?» murmelte der Füne. Mißtrauisch schielte er nach dem Wächter, der sich wieder näherte. «Die Kerle sind fürchterlich wachsam!»

      «Halt jetzt bloß den Mund und arbeite, damit nichts auffällt!»

      «Ja, ja, schon gut.»

      Einige Zeit arbeiteten die beiden Gefangenen stumm weiter. Manuelo lauerte auf einen günstigen Moment. Die Wärter hielten sich nie längere Zeit an der gleichen Stelle auf, sondern wanderten zwischen den Gefangenen umher, um die Arbeit zu überwachen. Manchmal gingen sie auch zu zweit, um ein wenig miteinander zu plaudern, denn der Wachdienst war ziemlich eintönig.

      Der Füne schielte wieder zu den Wärtern und flüsterte: «Glaubst du, daß Jens ...?»

      «Ja, das hat er versprochen.»

      «Aber er tut gar nicht so, als ob er ...»

      «Halt endlich den Mund! Er muß nur die Wärter näher bei sich haben.»

      Eine Viertelstunde später entstand zwischen den Gefangenen, die ein wenig weiter weg arbeiteten, Unruhe. Zwei begannen laut miteinander zu streiten, und sofort waren die Wärter auf dem Weg zu ihnen. Trotzdem artete der Streit in eine Schlägerei aus, und mehrere Gefangene ließen ihre Arbeit ruhen, um zuzuschauen. Einer der Wärter gab laut und scharf Befehle, aber es gab doch eine kurze Verwirrung.

      «Jetzt!» befahl Manuelo kurz. «Mir nach!»

      Er warf den Spaten weg, glitt lautlos den Abhang hinunter in den Kanal und lief platschend durch das niedrige Wasser, hinter ihm sein Kumpan. Der Boden war ziemlich fest, aber so glatt, daß sie hie und da rutschten; dennoch kamen sie gut voran. Ein Stück weiter hinauf bog der sonst schnurgerade Kanal im rechten Winkel nach Südosten ab, und dieses Biegung war das Ziel der beiden.

      Als Manuelo die Biegung erreichte, warf er zum ersten Mal einen Blick zurück und sagte atemlos: «Bis jetzt haben sie unser Verschwinden noch nicht bemerkt, aber lange wird es nicht mehr dauern. Eil dich, mir nach!»

      Er sprang hinauf auf das feste Land und lief ein Stück weit an dem schmalen Kanal entlang. Hier konnten die Gefängniswärter sie nicht sehen, und nur etwa vierhundert Meter weiter lag eine große Gärtnerei.

      «Zurück ins Wasser!» befahl Manuelo.

      Der Füne gehorchte jedem Befehl, und beide liefen jetzt noch ein paar hundert Meter weiter durch das Wasser. Dann wurde die Stille durch schrille Pfiffe gestört. Der Füne blieb unwillkürlich stehen und stöhnte müde: «Jetzt haben sie es gemerkt.»

      «Halt den Mund ... weiter!»

      Einen Augenblick später hatten die beiden Flüchtlinge das Gelände der Gärtnerei erreicht, aber sie verlangsamten deswegen ihre Schritte nicht, denn kein Mensch war zu sehen. Sie liefen an einem langen, geraden Feuergraben entlang und erreichten etwas später eine zu Löschzwecken angelegte, mit Wasser gefüllte Grube. In diese Grube sprangen sie hinein und wateten durch das ihnen bis zur Brust gehende, spritzende Wasser; denn es galt hauptsächlich, die Polizeihunde von der Spur abzulenken.

      Als sie die Grube verließen, befanden sie sich immer noch auf dem Gelände der Gärtnerei, das an dieser Stelle dicht mit Sträuchern bestanden war. Hier machten sie zum ersten Mal eine Pause.

      Der Füne atmete schwer. «Glaubst du, daß sie die Spur verloren haben?»

      Manuelo grinste triumphierend. «Es wird verflixt schwer für die Hunde sein, unsere Fährte zu finden, nachdem wir durch so viel Wasser gelaufen sind. Schon jetzt haben wir einen großen Vorsprung.»

      «Aber woher bekommen wir jetzt andere Kleider?» fragte der Füne.

      «Wir


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