Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg

Am Pier - Gerd Mjøen Brantenberg


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fühlen. Jetzt reichte Beate ihr ihr Lineal. Es war ein elastisches Lineal, unter dem ein Gummiriemen befestigt war. Zwischen Riemen und Lineal steckte ein Zettel. Das war das neue Postsystem. „Ja, vorher dachten sie, es ginge im Zickzack.“ Ein Bild von zwei Punkten, verbunden durch eine Zickzack-Linie. Abb. 1. BHs Lehrsatz.

      Plötzlich begriff Inger, was ein solcher Mensch war. Das war es, worüber sie gelesen hatte! Jetzt wußte sie, daß all die brennenden Gefühle, über die sie früher in den Illustriertengeschichten und in den Evi Bøgemas-Büchern gelesen hatte, die brennende Liebe, die Scarlett O’Hara für Rhett Butler empfunden und Anna Kareninas überwältigende Sehnsucht nach Wronski, daß das die gleichen Gefühle waren, die sie jetzt für Beate hatte.

      Aber dann dürfte es doch kein Mädchen sein, dachte Inger. Dann müßte es ein Junge sein. Oder ich müßte ein Junge sein. Wie kann ich sie lieben, wenn ich kein Junge bin?

      Aber das tat sie. Sie schrieb es in ihr Tagebuch. Und danach verbrannte sie die Seiten, auf die sie das geschrieben hatte.

      Beate und ihre Mutter hatten es sich am Küchentisch gemütlich gemacht und tranken Kaffee. Heute gab es Wecken dazu. Beate hatte Geburtstag. Später würde wohl auch die Tante mit Geschenken kommen, und sie hatten auch Tone gebeten, vorbeizuschauen. Sie arbeitete unten bei der Versicherung.

      „Hat dir denn heute jemand gratuliert, Mädi?“

      „Nein, es wußte auch niemand, daß ich Geburtstag habe.“

      Es hatte doch ein bißchen wehgetan. Nun wurde sie schon vierzehn, und niemand wußte etwas davon. Sie konnte das doch auch nicht einfach erzählen. Inger vielleicht. Aber irgendwie ging es nicht.

      Sie mußte ihre Aufgaben machen, ehe die anderen kamen. Als sie ins Nebenzimmer ging, hing ein dicker dunkelbrauner Vorhang vor ihrem Schreibtisch!

      „Hast du so einen gemeint?“

      „Ach, tausend Dank, Mama! Ja, genau so einen.“

      „Ich hab’ einen billigen Stoff entdeckt, weiß du, und da hab’ ich gedacht, na, soll sie halt ihren Willen haben.“

      „Es ist fast so, als ob ich ein eigenes Zimmer hätte.“ Beate umarmte ihre Mutter. Das passierte sonst fast nie zwischen ihnen. Aber heute war sie so froh. Einfach so ins Blaue!

      Dann setzte sie sich vor ihr Englischbuch. Es war ein Stück über „Dick Whittington and his cat“. Er kam einsam nach London und hörte die Glocken läuten. In den Büchern waren alle einsam. Aber irgendwie waren sie trotzdem nicht einsam. Sie waren im Buch. Beate vergaß das Lesen. Es war schön, so zu sitzen, auf einer Seite den Vorhang, auf der anderen das Bett, und zwischen den grünen Zimmerpflanzen hinauszusehen und zu wissen, daß niemand sie sehen konnte, weder von draußen noch von drinnen, während sie nach draußen und nach drinnen sehen konnte. Heute sah sie nach drinnen, wenn sie nach draußen sah.

      Er hätte heute hier sein müssen, ihr Vater. Hätte seine Tochter sehen müssen, die fast erwachsen war. In den letzten Tagen waren ihr Zweifel daran gekommen, daß die Deutschen ihn ermordet hatten. Denn wenn das passiert war, warum durfte sie es nicht erfahren? Dann wäre er ja ein Held. Nein, er war sicher nicht vor den Deutschen geflohen, das hatte ihre Mutter wohl nur geträumt.

      Mit großen Buchstaben schreibt sie „Beate Halvorsen“ auf ihre Kladde und malt die Buchstaben bunt an. Beate Halvorsen, Fredrikstad. Daraus wird BH. „Das hättest du dir auch überlegen können“, hatte sie eines Tages zu ihrer Mutter gesagt. „Was für blöde Anfangsbuchstaben!“ – „Ja, aber zu meiner Zeit hieß das noch nicht BH“, sagte ihre Mutter. „Du hättest trotzdem daran denken können. Du hättest ein bißchen weitblickender sein können.“ Die Mutter schwieg eine Weile. „Ich hab’ dir den schönsten Namen gegeben, den ich wußte“, sagte sie dann.

      Das Seltsame war, daß Inger ihr das heute auch gesagt hatte. „Beate. Das ist der schönste Name, den ich kenne.“

      Wer war sie eigentlich, fragte sich Beate, dieses Mädchen, das plötzlich immer wußte, wo sie war? Das ihr in der Stunde alberne Zettelchen schrieb und in der Pause mit ihr gehen wollte? Ab und zu hatte sie ein bißchen Angst, denn sie wollte nicht, daß die Lehrer glaubten, daß sie in der Stunde Zettelchen schrieb. Aber sie antwortete genauso albern wie die Zettel, die sie bekam, und schnippte sie in einem unbeobachteten Augenblick hinüber. Es wurde besser, als sie feststellten, daß das Lineal zur Postvermittlung verwendet werden konnte. Nein, sie war doch nicht so schlimm, diese Tochter von Dr. Holm. Sie machte einen Höllenlärm und kannte den halben Schulhof, aber in den Pausen, wenn sie beide allein hin und her gingen, hatte sie sehr viel Ernstes zu sagen.

      Alles kam daher, daß sie beim Zeichnen nebeneinander saßen. So hatte es angefangen. Danach hatte sie auf dem Schulhof ihre Hand genommen, nur weil sie dazu Lust hatte. Und Inger hatte sie festgehalten. War mitgekommen und hatte erzählt, von den letzten Büchern, die sie gelesen hatte.

      Eins handelte von einer Seidenhändlerstochter aus Marseille während der französischen Revolution, die einen von Napoleons Generälen heiratete, der dann später König von Schweden wurde. Und auch von Norwegen. Sie hieß Désirée und hatte ein Tagebuch geschrieben, in dem die Monate revolutionäre Namen trugen: Brumaire und Fructidor und was nicht alles, und die wollte Inger nun in Fredrikstad einführen. „Sie haben sich geliebt, verstehst du. Und deshalb ist sie mit ihm in ein fremdes Land gegangen. Das war das Wichtigste“, sagte Inger. „Ja“, sagte Beate, denn sie wußte nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Und danach sagten sie für den Rest der Pause überhaupt nichts mehr. Sie hielten sich einfach nur an den Händen, bis es schellte.

      Zum erstenmal im Leben fühlt Beate, daß sie eine hat, mit der sie reden kann. Das ist seltsam. Es ist fast so, als ob sie einen Vater hätte. Jedenfalls so, wie sie sich einen Vater vorgestellt hat. Einer, dem sie immer ihre Gedanken anvertrauen kann. Jemand jenseits des Horizonts. Der Unterschied war nur, daß sie diesmal Antwort bekam.

      „Issas nich die Tochter von Fräulein Halvorsen, zusammen mit der Holm?“ fragte Hauge und schaute durch die Fenstertür schräg hinüber zur Vestsiden-Kirche. Ringstad warf einen raschen Blick in dieselbe Richtung und nickte.

      „Stimmt.“

      „Die quasseln aber arg lang. Ham die jungen Leute denn sonst nix zu tun? Jetzt seh’ ich die schon fast ’ne Woche jeden Tag da rumstehen.“

      „Ach“, meinte Ringstad. „Die ham auch ihre Probleme.“

      „Wußte gar nich, daß Fräulein Halvorsen ihre Tochter zur Schule schickt?“

      „Aber sicher. Macht sie.“ Mehr sagte Ringstad nicht, obwohl sie aus Lahellemoen kam und Übersicht über den Fall haben mußte. Sie war heute so mürrisch und wortkarg wie immer. Der Ringstad war wohl letzte Nacht wieder in der Ausnüchterungszelle gelandet?

      „Und wie geht’s sonst so, Ringstad?“

      „Ach, mi’m Nähen geht’s wohl gut, soviel ich weiß.“

      „Mi’m Nä...“ Hauge unterbrach sich, da sie begriff, daß Ringstad immer noch von Fräulein Halvorsen sprach.

      „Ach ja?“

      „O ja“, antwortete Ringstad warm. „Da in dem Haus gibt’s keine Not, nein.“

      Was für eine enttäuschende Mitteilung. So wie Fräulein Halvorsen sich auf dieser Welt aufgeführt hatte, wäre das doch wohl das mindeste gewesen. Statt dessen schickte sie ihre Tochter in die Schule.

      „Ja, so isses. Schlimm...“, seufzte sie.

      „In der Beate steckt viel Gutes drin, das kann ich dir sagen.“

      „Meinst du wirklich? Wo die das wohl her hat.“

      „Ich glaub’ nich, daß das so schwer zu begreifen ist.“

      Aber Hauges Blick wanderte zurück zum Brunnen vor der Kirche, wo die beiden jungen Mädchen immer noch saßen. „Der ist abgehauen, dieser Seemann, das weiß ich.“

      In diesem Moment kehrte Iversen mit einem Tablett voller leerer Tassen und Gläser von einer


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